Die Landschaften zogen an Evan vorbei, das dumpfe Brummen des Zuges hatte eine hypnotisierend einschläfernde Wirkung und trug seine Gedanken davon. Er dachte über das letzte Jahr nach. Verrückt, dass er schon wieder im Zug nach Hause saß. Immerhin hatte Evan noch ganz klar vor Augen, wie er sich von seinen Eltern verabschiedet hatte, bevor er in den Zug gestiegen war. Seine Mutter hatte ihn fest in die Arme geschlossen und er hatte ihr blumiges Parfum inhaliert, von dem er gewusst hatte, dass er es von diesem Moment an für eine ziemlich lange Zeit nicht mehr riechen würde.
»Du bist so ein mutiger Junge«, hatte sie ihm ins Ohr gehaucht und ihn noch einmal ganz fest an sich gedrückt. Ihr Körper hatte sich klein und zerbrechlich unter seinen Händen angefühlt.
»Mum, ich bin nicht aus der Welt. Es ist nur ein Jahr. Und wir telefonieren doch.«
Sie hatte daraufhin geseufzt und ihn freigegeben, ihn mit feuchten Augen durch ihre große rote Brille angeblickt.
Er hatte gelächelt.
»Versprich mir, dass deine Kamera heil wieder her findet und wag es ja nicht, ohne Fotos der Freiheitsstatue zurückzukommen!« Sie hatte geschnieft und die Stirn gerunzelt, wobei sich stets tiefe Furchen in ihre helle Haut gruben. Aber sie hatte ebenfalls gelächelt und ihn fest auf die Wange geküsst. »Ich liebe dich.« Sie hatte ihn etliche Sekunden aus ihren trüben blauen Augen angeblickt.
»Ich dich auch, Mum.« Er hatte versucht, noch irgendwelche Worte zu finden, bevor er sich seinem Vater hatte zuwenden müssen. Er hasste Abschiede von seinem Vater. Nicht, weil er ihn so sehr vermissen würde, sondern weil sie beide keine Männer großer Worte waren. Sowieso war seine Beziehung zu ihm eher … schwierig.
»Dad«, hatte Evan gesagt und seinem Vater zugenickt, der seine Hände in den Taschen seiner Jeans verborgen hatte. Ein Zeichen, dass er nicht vorhatte, seinen Sohn zu umarmen oder ihm nochmal die Schulter zu tätscheln.
»Mein Sohn«, hatte Lance Randall knapp erwidert und genickt.
Dann war Evan in den Zug gestiegen und hatte Brighton den Rücken zugekehrt. Bis jetzt, als er mit circa dreihundert Stundenkilometer auf seine Heimatstadt zu raste.
Das letzte Jahr war so schnell vergangen. Er hatte so viele wunderbare Leute kennengelernt, etliche Speicherkarten für seine Kamera verbraucht und sich so lebendig und unabhängig gefühlt wie nie zuvor.
Amerika war wunderbar, aber sein Zuhause war nun mal hier in England. Er freute sich auf sein Bett, den Fernseher, ja selbst auf den ständigen Geruch nach Micks Zigaretten!
Mick war ein wirklich komischer Kauz. Faul wie noch was und rührte nie einen Finger im Haushalt. Evan wollte sich gar nicht vorstellen, wie es in der Wohnung jetzt aussehen würde. Er war damals durch eine Anzeige auf Mick gestoßen. Evan war gerade fertig mit der Schule gewesen, hatte seinen Abschluss in der Tasche und seine Ausbildung zum Fotografen begonnen und somit auch nicht gerade über viel Geld verfügt. Er hatte trotzdem ausziehen wollen. Er hatte gewusst, mit seinem Dad hielt er es keinen Tag länger unter einem Dach aus. Also hatte Evan an Mick geschrieben und war wenige Wochen danach bereits eingezogen. Eine Entscheidung, die sein Leben gleichermaßen bereichert wie auf den Kopf gestellt hatte. Aber Mick war wie Familie für ihn. Mick mit seinen etlichen Eigenarten.
Der Zug fuhr schließlich in den Bahnhof ein. Und da war es: Das vertraute Gefühl der Heimat.
Evan nahm seinen Koffer von der Ablage über ihm und stieg breit lächelnd aus. Der mit einer Stahlglashalle überdachte Bahnhof hatte ihn seine ganze Kindheit über begleitet und lag etwas nördlich des Stadtzentrums, das er in und auswendig kannte. Plötzlich fühlte es sich an, als wäre er nie weg gewesen.
Evan trat aus dem Bahnhof hinaus und war sofort eingehüllt in die Dunkelheit der Nacht. Er hielt inne und sah sich zufrieden um. Er war wieder zu Hause.
Seine Eltern wussten nicht, dass er heute schon ankam. Mick hatte ihm versprechen müssen, ihnen nichts zu sagen. Evan wusste, dass die beiden – naja, zumindest würde seine Mutter es so wollen – ihn lachend und mit einem riesigen Welcome-Back-Schild begrüßen würden. Und das war ihm jetzt nach dem Flug und der Zugfahrt einfach zu viel.
Ein abruptes Hupen riss ihn aus seinen Gedanken. Er fuhr zusammen und blickte sich um, bis er einen Chevrolet ausmachte, der direkt an der Straße stand. Er kannte das Auto nicht, aber die Beifahrertür wurde aufgestoßen und dann wurde erneut gehupt. Evan sah sich um. Er war der Einzige weit und breit, der gemeint sein konnte, also trat er an das Auto heran und erblickte hinter dem Steuer schließlich Preston.
»Neue Karre?«
Preston nickte und schnalzte mit der Zunge.
Evan musste lachen, lud seinen Koffer in den Kofferraum und ließ sich mit einem lauten Stöhnen in den Sitz sinken.
»Willkommen zurück, würd ich mal sagen, american boy.«
»Lass mich raten«, meinte Evan lachend. »Mick schickt dich her, weil er selbst keinen Bock hat?«
»Exakt, Ev.«
Preston startete den laut aufheulenden Motor und Evan ließ erschöpft seinen Kopf gegen die Fensterscheibe sinken. Im Auto roch es nach Qualm. Er hatte gar nicht gewusst, dass Preston auch rauchte. Naja, es konnte in einem Jahr einiges passiert sein. Vielleicht hatte er zu viel Zeit mit Mick verbracht.
»Und, wie sind die amerikanischen Mädchen? Also die, die nicht die Fähigkeit haben, Burritos in ihren Speckfalten mitgehen zu lassen«, fragte Preston und grinste blöd.
»Ich hab ein paar echt nette Mädels kennengelernt. Alle sind super locker.«
Preston stöhnte und rollte mit den Augen. »Der immerzu diskrete Evan, he?«
»Ich bin nur … echt müde.«
»Hm … Dann erzähl halt nichts von deinen gruseligen One-Night-Stands, sond—«
Evan prustete los. »Sowas gab’s nicht, klar?«
»Klar.« Preston grinste.
Evan war unsagbar erschöpft und schrecklich dankbar, dass Preston ihn abholte. Er kannte Preston schon eine gefühlte Ewigkeit und es machte ihm Angst, dass er sich während seiner Abwesenheit verändert hatte. Das strohblonde Haar war viel kürzer als früher, der Drei-Tage-Bart ließ ihn älter wirken und die Zigarettenschachtel, die er neben dem Fahrersitz erblickte, bestätigte, dass er begonnen hatte, zu rauchen.
Als der Wagen hielt, fuhr Evan hoch – ihm waren kurz die Augen zugefallen; seine Lider waren so schwer. Er brauchte jetzt dringend eine Mütze voll Schlaf. »Danke für’s Fahren, Pres. Wir seh’n uns.« Evan stieg aus, holte seinen Koffer aus dem Kofferraum und hörte eine Autotür zuschlagen. »Preston, ich geh jetzt rein. Muss mich noch Mick stellen und dann hau ich mich erstmal auf’s Ohr.«
»Ja, klar. Ich hab Mick was geliehen und brauch’s zurück. Ich fahr gleich wieder.«
Evan nickte, kramte seine Schlüssel raus und öffnete die Haustür. Müde schleppte er sich die Treppen bis zu seiner und Micks Wohnung hinauf. Er war so erschöpft, dass er gar nicht begriff, dass er tatsächlich wieder hier war. Er schloss auf, dicht gefolgt von Preston, schaltete das Licht im Flur ein und— »ÜBERRASCHUNG!« Dutzende Menschen sprangen lachend hervor, Musik mit donnerndem Bass dröhnte vom einen auf den anderen Moment aus allen Richtungen und es roch verdächtig nach Alkohol.
»Das gibt’s nicht.« Evan stöhnte auf. Er war nicht gerade begeistert, weil er hundemüde und zu einer Überraschungsparty jetzt echt nicht in der Lage war, aber auf der anderen Seite war er wirklich gerührt. Er hatte nicht erwartet, dass man sich so darüber freuen würde, dass er wieder zu Hause war. Evan drehte sich nach Preston um, der ihn nur verschwörerisch angrinste. »Okay, ist das etwa auf deinem Mist gewachsen?«, wollte Evan wissen und schob seinen Koffer an die Seite.
Preston zuckte unschuldig mit den Schultern. »Von Mick konnte es nicht kommen, das weißt du. Also musste sich ja wer anders drum kümmern, dass der Ami richtig empfangen wird.«
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