Jonah schloss wieder seine Augen und versuchte, die Bilder der grässlichen Kreaturen, die sich in seinem Albtraum als die Todsünden Neid und Zorn gezeigt hatten, zu verdrängen. Ein schauerlicher Gedanke hatte sich seit dem Moment, in dem er seiner Mutter in die Augen gesehen und das mächtige Gefühl des Zorns verspürt hatte, in ihm eingenistet: Es war möglich, dass er eine der sieben Todsünden verkörperte. Er war nie besessen gewesen. Er hatte schon früher oftmals Neid und Zorn gehegt. Es war tatsächlich möglich. Und das Schlimmste: Es störte ihn nicht. Es war ein merkwürdig wohltuendes Gefühl. Er dachte nach.
Die zehn Gebote:
1. Du sollst an einen Gott glauben. Doch Jonah war davon überzeugt, dass auch in ihm Göttliches stecken musste.
2. Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren. Doch Jonah hasste und verspottete ihn für die Dinge, die in der Welt geschahen und für die er zu schwach war, um sie zu verhindern.
3. Du sollst den Tag des Herrn heiligen. Doch für ihn waren Kirchen nichts als Backsteine und Gottesdienste bloß alte Männer, die von etwas sprachen, von dem sie keine Ahnung hatten.
4. Du sollst Vater und Mutter ehren, damit du lange lebest und es dir wohl ergehe. Aber sie hatten sein Leben zerstört, weil sie Julian so liebten und ihn nicht. Seine Eltern waren nichts als Spott für diese Welt.
5. Du sollst nicht töten. Aber es hatte sich gut angefühlt, Mr McBanes unnachgiebiges Fleisch zu spüren.
6. Du sollst nicht Unkeuschheit treiben. Doch Jonah hatte Sara betrogen und sich nicht einmal schlecht gefühlt.
7. Du sollst nicht stehlen. Aber die teure Uhr seines Bruders hatte er dennoch an sich genommen, weil sie doch viel besser zu ihm passte.
8. Du sollst kein falsches Zeugnis geben. Doch er hatte Mrs Shepard verkauft, er wäre besessen gewesen.
9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau. Und er liebte einen Mann.
10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut. Und doch brauchte er alles, was Julian besaß und noch viel mehr.
Jonah schlug die Augen auf. Vielleicht hatte er sich getäuscht und Julian war gar nicht der Bruder, der zu Höherem bestimmt war. Vielleicht war es Jonah. Nur auf eine andere Weise, als er es sich gedacht hätte. Andererseits: Konnten diejenigen, die der Teufel zu einer Todsünde gemacht hatte, überhaupt wissen, was sie waren? Er hatte keine Ahnung und versuchte angestrengt, wieder einzuschlafen. Es war die reinste Folter, sich nicht auf die Seite oder den Bauch drehen zu können. Ständig pochte seine Schulter, die in der Schlinge lag. Der Arzt hatte zwar gesagt, dass er großes Glück gehabt hatte, aber Schmerzen hatte er trotzdem.
Jonah starrte an die Decke und dachte an das Gespräch mit den Polizisten, die sich über seine Aussage, er habe das Gesicht des Angreifers nicht gesehen, gewundert hatten, weil der Arzt ihnen erzählt hatte, dass der Schuss den Verletzungen zufolge aus nächster Nähe abgefeuert worden war.
Wie sollte er nur schlafen, wenn in seinem Kopf Krieg herrschte? Konnte der Teufel wohl ruhig schlafen? Bei all seinen Gedanken … Unter Jonahs Bett schlummerte eine Macht, eine Kraft, wie ein Tier, wie der König der Tiere. Aber er war gefangen in einem Käfig, so wie er selbst. Doch er wollte frei sein. Wenn man in seine Augen sah, konnte man ihn sehen. Den Löwen, der in ihm schlummerte und der nur darauf wartete, auszubrechen und zu brüllen...
Jonah schreckte hoch. Er war nicht eingeschlafen, sondern nur kurz einem Gedankengang verfallen…Der Apokalypse vielleicht. Er machte sich langsam selbst Angst. Aber war das nicht ein gutes Zeichen? Wenn er Angst hatte, konnte er noch nicht komplett durchgedreht sein.
Mit einem Satz schwang Jonah seine Beine über die Bettkante und stand auf, wobei er sich von den Geräten trennte, die sofort zu piepsen begannen.
Als er die Tür langsam öffnete, verspürte er ein drängendes Gefühl und eine Gänsehaut fuhr ihm auf die Arme. Was für ein Gefühl? Vielleicht Angst davor, dass er das hier allein durchstehen musste. Er musste allein zum Camp zurückfinden. Jonah war auf sich gestellt. Kein Julian, kein Deryck, der ihm helfen würde und auch keine Mrs Shepard, die ihm Anweisungen gab, wie er etwas zu tun hatte. Nur er selbst. Und er hatte längst realisiert, dass alles, was er war, er selbst war.
Er stieß die Tür auf. Es war still auf dem Gang. Dann trat er den Heimweg an. Oder den Abstieg zur Hölle?
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