Deryck bekam ebenfalls kein Auge zu. Es war merkwürdig, dass Aidan nicht bei ihm in der Hütte war, aber Jonahs Abwesenheit spürte er am meisten.
Violet musste Spencer trösten, die kaum damit fertig wurde und sich – so wie sie eben war – einredete, dass sie die Verantwortung für die heutigen Ereignisse trug. Dass Aidan einfach abgehauen war, half ihr da auch nicht weiter, sondern ängstigte sie nur noch mehr.
Julian war ebenfalls schrecklich in Sorge um Jonah und auch Evan war hellwach. Er lag in dem Zelt, das er sich eigentlich mit Will teilte, der wegen seiner Verletzung jedoch bei Shepard in der Hütte lag. Evan sah sich gerade einige von Wills Zeichnungen an. Sie waren wirklich unglaublich gut. Auf den meisten war Rayna zu sehen: Rayna auf einer Blumenwiese, Rayna im Regen, Rayna mit Engelsschwingen … Wenn er sich diese Zeichnungen so ansah, fehlte ihm sein eigenes Hobby: Die Fotografie. Es war jedoch erstaunlich, wie gut er damit klarkam, hier zu sein, wenn man bedachte, dass—
»Evan?«, ertönte plötzlich eine weibliche Stimme und er fuhr erschrocken zusammen. Sofort beschleunigte sich sein Herzschlag und er legte hastig die Zeichnungen beiseite, als hätte er etwas Verbotenes dabei getan, sie anzusehen. Doch das war nicht der Grund, aus dem sein Herz jetzt raste. Nein. Das konnte nicht sein. Shepard hatte den Dämon vertrieben. Ein langer Schatten türmte sich vor dem Zelt auf und dann kam jemand herein. Evan riss die Augen angstgeweitet auf, bereit, um sich mit Kaya auch dieses Mal auseinanderzusetzen. Aber die Frau, die eintrat, war nicht sie. Es war Rayna.
»Oh mein Gott«, keuchte er und atmete voller Erleichterung aus. Für einen Moment war er wieder gefangen gewesen in seinen Erinnerungen und dem eigentlichen Grund, der ihn hergeführt hatte. »Rayna, ich dachte, du—Ach, nicht so wichtig. Was … Was machst du denn hier?«
Sie setzte sich neben ihn, auf Wills Schlafsack und blickte Evan mit ihren großen dunklen Augen an, in denen er jetzt nur Erschöpfung erkannte.
»Ist alles in Ordnung?«, hakte er nach und setzte sich aufrecht.
Sie sah ihn an, nach dem Motto Als ob die Antwort nicht offensichtlich wäre. »Ich wollte nicht allein sein«, sagte sie schließlich im Flüsterton, als könne sie sonst einen Schlafenden wecken.
»Was ist denn mit Violet und Spencer?«
»Spence weint durchgehend und Violet ist so gut es geht für sie da. Ich …Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht hab, herzukommen. Vielleicht wollte ich einfach in Wills Zelt sein, verstehst du?«
Er versuchte, sie so glaubhaft es ging, anzulächeln und nickte. »Ich bin erst zwei Tage hier und schon war so viel los. Echt unglaublich, dass wir heute noch laufen waren. Kommt mir vor, als wär das eine Ewigkeit her.«
»Ja, mir auch …« Rayna blickte ins Leere und Evan legte sich hin, zog sich die Decke bis ans Kinn und fragte sich, wieso er eigentlich keine Angst hatte. »Bist du gar nicht müde?«, wollte er wissen und Rayna schüttelte den Kopf, legte sich aber ebenfalls hin und deckte sich mit Wills Decke zu, deren Geruch sie in sich aufnahm.
»Ich muss die ganze Zeit an das mit Will denken. Wenn er wieder in der Verfassung ist, zu reden, dann will ich wissen, was Aidan getan hat. Und wenn er absichtlich auf ihn geschossen hat und ich ihn je wiedersehe…«
»Was war das da heute eigentlich … mit ihm und Spencer?«
Rayna seufzte und drehte sich auf die Seite, um ihn ansehen zu können. »Die beiden sind schon eine Weile zusammen gewesen, bevor sie ins Camp kamen, aber sie streiten sich, seit ich sie kenne, ständig und Aidan ist … Er hat sich unmöglich ihr gegenüber verhalten.«
»Glaubst du, er kommt wieder?«
»Ja … Er hat ja nicht mal seine Sachen mitgenommen und wird diese Nacht wahrscheinlich ganz schön frieren. Also ich denke, wenn er nicht wiederkommt, um Verantwortung für seine Taten zu übernehmen, dann wenigstens, um seine Sachen zu holen.«
»Ja, vielleicht …«
»Ist es okay, wenn ich heute Nacht hier im Zelt bleibe?«, fragte sie nach einer kurzen Pause.
»Ja, klar, wenn du dich dann besser fühlst.«
Sie lächelte dankbar und nahm erneut den Geruch von Wills Decke in sich auf.
Evans Blick fiel auf ihre Tätowierung am Handgelenk und da musste er erneut an die Situation im See, das Vertreiben der Besessenheit und an seine Ängste denken … Sie war eine seiner Ängste gewesen. Frauen zählten zu seinen Ängsten. Das war so unglaublich erniedrigend.
»Das alles hier muss so viel für dich auf einmal sein…Du bist bestimmt unglaublich froh, dass du die Besessenheit endlich los bist«, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
Evan nickte. »Ja, sehr. Es ist so verrückt, wie sich heute meine komplette Sicht auf die Dinge verändert hat. Ich denke wirklich, dass ich … dass ich glauben kann, dass es einen Teufel gibt. Einen Verantwortlichen für unsere Taten.«
»Ich lüge dich nicht an. Ich hab dir die Wahrheit gesagt. Der Teufel hat das Artefakt und dadurch hat er viel zu viel Macht.«
»Aber was, wenn nicht wir uns darum kümmern müssten, sondern dieser Engel, von dem du gesprochen hast? Wenn es den wirklich gibt, wieso tut er dann nichts?«
»Ja, ich habe oft über ihn nachgedacht. Aber vielleicht weiß er ja gar nicht, wer er ist.«
Evan musste an die Zeichnung von Rayna mit den Engelsschwingen denken. »Und woher weißt du dann, dass du es nicht bist?«
Rayna verengte ihre Augen zu Schlitzen und drehte sich auf den Rücken. »Ich bin kein Engel.«
Evan sah sie einen Moment länger an, als er es vielleicht sollte und wandte dann ruckartig den Blick ab.
Eine Weile lagen sie so da, starrten an die Decke des Zeltes und lauschten dem leisen Säuseln des Windes. Was alles geschehen war, seit Violet ihn geholt hatte, war einfach unfassbar …
»Gute Nacht, Evan«, sagte Rayna schließlich nach einer Weile und drehte sich auf die Seite, um ihn wieder ansehen zu können.
Evan mochte sie, das wusste er jetzt mit Sicherheit. Er würde ihr vertrauen, auch wenn das gegen jegliche Vernunft sprach. »Gute Nacht«, sagte er und schloss die Augen.
Evan wurde am nächsten Tag noch vor Rayna wach, die das Gesicht nach wie vor tief in Wills Schlafsack vergraben hatte. Er fühlte sich schrecklich, unausgeschlafen, aber auch nicht in der Lage, noch einmal einzuschlafen. Allerdings war das die erste Nacht ohne irgendwelche Erscheinungen und Angstzustände gewesen und deshalb versuchte er, sich nicht über seine Müdigkeit zu beschweren.
Eigentlich hatte Aidan vorgehabt, ihn an diesem Morgen zu wecken, damit Evan mit seinem Training beginnen konnte, aber da er nicht da war … Evan rappelte sich auf, strich sich das Haar glatt und streckte die steifen Glieder, ehe er aus dem Zelt ging, um zu sehen, ob schon jemand außer ihm aufgestanden war. Tatsächlich: Um das Lagerfeuer herum saßen Lien, Julian und Deryck, die gerade das Frühstück zubereiteten. Bei dem Gedanken an gestern wollte er am liebsten … Na, was denn? Weglaufen wollte er ja auch nicht.
»Morgen«, begrüßte Deryck ihn und Evan nickte ihm zu.
Julian war gerade dabei, Teig auf ein paar Stöcke zu schieben, während Deryck und Lien etwas Milchreis kochten. Stockbrot. Das hatten Evan und sein Vater sich auch zubereitet, wenn sie auf Wanderungen gewesen waren …
»Daddy, ich hab noch Hunger, haben wir noch was?«, hatte Evan als Achtjähriger gefragt, wenn sie abends am Lagerfeuer gesessen hatten.
»Glaubst du, so kannst du überleben? Wenn du dich ständig beschwerst? Komm klar mit dem, was du hast, Junge.«
»Aber Dad, ich will niemals in der Wildnis leben!«
»Ich versuche, dich auf dein Leben vorzubereiten. Man weiß nie, was einem mal passiert.«
Daraufhin hatte er geschwiegen und war mit knurrendem Magen irgendwann eingeschlafen. Eine leise Sehnsucht ergriff ihn plötzlich und er wünschte sich für einen Augenblick diesen Moment mit seinem Vater zurück, auch wenn er so wie seine gesamte Beziehung zu ihm gewesen war: Kalt und distanziert. Lieblos. Aber sein Vater hatte recht gehabt, Evan war bloß zu jung gewesen, um es zu verstehen. Man wusste wirklich nie, was einem mal passierte. Und jetzt saß er hier an einem Lagerfeuer mit Menschen, die er kaum kannte, glaubte an den Teufel und musste sich mit Stockbrot und Milchreis zum Frühstück begnügen.
Читать дальше