Aber bevor er wieder ein Held sein konnte, musste er sich seinen Eltern stellen. Den beiden Personen, die Jules immer mehr geliebt hatten, als sie noch von seiner Existenz gewusst hatten, den beiden Personen, die er vielleicht mehr als alles andere auf der Welt verabscheute.
Barbara und James King kamen schneller als gedacht. Als sich die Tür zu Jonahs Krankenzimmer öffnete, fuhr er angestrengt zusammen, aber seine Fassade glänzte und er lächelte strahlend. Auf dem Gesicht seiner Mutter machte sich ein verzerrter und erschrockener Gesichtsausdruck breit und sie nahm die Hand ihres Mannes, die in ihrer wulstigen Pranke beinahe zerbrechlich aussah. Und Jonah sah fertig aus; das Haar durcheinander, die Haut fettig, sein Arm in einer Schiene.
Barbara und James blieben einen Moment in der Tür stehen. Das ungleiche Paar: Die große breite Geschäftsfrau und der kleine dürre Handwerker.
»Jonah«, stieß seine Mutter mit Tränen in den Augen aus und der Fünfzehnjährige zwang sich krampfhaft dazu, weiterhin zu lächeln. Er konnte nicht sagen, ob sie es ihm abnahmen, doch sofort stürmten sie auf ihn zu und seine Mutter küsste feucht und hart seine Stirn, während sein Vater sich auf den für Besucher bereitgestellten Stuhl setzte und Jonahs Hand streichelte.
»Mum … Dad.«
»I-Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, stammelte seine Mutter, als sie ihn freigab und hielt sich das zitternde Kinn. »Ich habe mir diesen Moment so lange vorgestellt. Seit du gegangen bist. Jo, ich habe dich so vermisst.«
Wieder setzte er sein gezwungenes Lächeln auf und hätte ihr am liebsten ins Gesicht geschrien: »Wieso? Wieso seid ihr nicht fähig, ihn und mich gleichermaßen zu lieben?«
»Ich … ich euch auch.« Er fühlte sich, als würde er an diesen Worten jeden Moment ersticken.
»Warum, mein Kind? Warum bist du gegangen? Wir haben so lange nach dir gesucht.«
»Ich bin gegangen, weil ich ihm ebenbürtig sein wollte«, zischte Jonah durch zusammengebissene Zähne und hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt, doch er konnte sich nicht mehr zusammenreißen. Es war so falsch, wie sie sich verhielten. So empfanden sie nunmal nicht für ihn.
»Wovon redest du? Wem ebenbürtig?«, fragte sein Vater und in seinen Augen spiegelte sich der Ausdruck, der sich verzweifelt fragte, womit er einen Sohn wie Jonah verdient hatte.
»Wie…Er….Wie…«, stammelte er. Er wusste keine Antwort. »Wie Julian. Wie mein Bruder. Euer Sohn.«
»Es ist okay. Du musst nicht darüber reden, wenn du einen Jungen kennengelernt hast«, sagte seine Mutter liebevoll, aber keineswegs verständnisvoll. Sie hatten es immer gehasst. Wie er war. Und verstehen würden sie es niemals.
Er sah seiner Mutter in die Augen und verspürte ein Gefühl, das er noch nie zuvor auf diese intensive Art verspürt hatte. Es war drängend, nagend, machtvoll: Zorn.
»Ich verstehe das nicht … Aidan, du wolltest dich umbringen?« Entgeistert ließ Spencer sich neben ihm nieder und betrachtete seine markanten Gesichtszüge, die plötzlich so weich wirkten.
Beschämt und gedemütigt, gar bloßgestellt, senkte Aidan den Blick. So kannte man ihn nicht. Es war still in der Runde. Evan sah verblüfft zu Aidan, der den Blick stets gesenkt hielt. Er sah es ihm an: Er kämpfte mit den Tränen.
»Wieso? Aidan, wieso?« Spencer hob sein Gesicht an, doch er weigerte sich, hochzusehen.
»Mrs Shepard, muss ich das … Kann ich nicht mit Ihnen allein sprechen?«, fragte Aidan mit gebrochener Stimme.
»Aidan, du musst dich vor deinen Verbündeten offenbaren. Wenn ihr da draußen seid und Seite an Seite gegen das ultimative Böse kämpft, dann darf nichts zwischen euch stehen.«
Er schluckte. Nicht nur Evan erwartete gespannt eine Erklärung. Was um alles in der Welt war so tragisch, dass es jemanden wie Aidan dazu bringen konnte, sich töten zu wollen?
»Natürlich lag es daran, dass ich wieder ausgerastet bin. Ich hab mich geschämt. Evan habe ich geschlagen, obwohl er mir nichts tun wollte, Will genauso … Das war sozusagen der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Aber los ging es eigentlich viel früher, nur … ich ….« Es gab eine lange Pause, ehe er bereit war, alles zu erzählen. Am liebsten hätte Evan ihm gesagt, er müsse sich nicht überwinden, aber das Verlangen danach, zu erfahren, was geschehen war, überwog und er war erleichtert, als Aidan weitersprach: »Meine Schwester. Meine jüngere Schwester Paula. Sie ist gestorben, als ich sechzehn war. Ich meine … das ist jetzt fünf Jahre her, aber ich kann es einfach nicht … ich kann es nicht vergessen. Paula war da gerade mal zwölf und sie ist bloß zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Ein Laden wurde überfallen, sie stand im Weg, wurde abgeknallt. Ihr Mörder wurde nie gefasst. Ich wollte eine Erklärung finden. Wieso man jemandem wie ihr so etwas antun musste. Ein Jahr lang hab ich damit verbracht, ihren Mörder zu suchen, aber es war alles vergebens, hatte einfach keinen Zweck. Im nächsten Jahr habe ich dann angefangen, zu realisieren, was passiert ist, dass sie niemals wiederkommt, nie alt wird, sich ihren Traum vom eigenen Tanzstudio nie erfüllen kann. Im Jahr darauf ging ich wie in Trance und ohne davon zu wissen mit der Waffe meines Vaters in die Schule und erschoss vierundzwanzig Schüler, sieben Lehrer und sogar ein Elternpaar. Freunde von mir waren darunter. Aber ich bin an diesem Tag wieder nach Hause gegangen, hatte alles vergessen, die Waffe war weg, alles war wie immer, alles war gut, aber als ich wieder in die Schule gehen wollte, da kannte mich niemand dort. Einen Aidan Travis habe es nie dort gegeben, ich sei ja verrückt und solle sofort verschwinden. Also hab ich das auch getan. Bin nach Hause, hab mich von meinen Eltern verabschiedet und bin gegangen. Als die Erinnerung zurückkam, war ich wie gelähmt. Ich wollte wieder nach Hause. Aber dort sagten mir meine Eltern, dass es unmöglich war, dass ich aufhören sollte, ihnen einen Streich zu spielen, dass ihr Sohn tot war. Dafür, dass ich etwas so schlimmes gemacht habe, gibt es eine Erklärung: Den Teufel.« Aidan schluckte schwer und starrte nach wie vor auf den Boden, während sein Gesicht von tiefen Furchen gezeichnet war. »Aber für die sinnlose Tat dieses Verbrechers gegenüber meiner Schwester gibt es keine? Das ist nicht fair, versteht ihr? Paula hat in ihrem Leben keine einzige Sünde begangen, aber musste sterben und ich darf weiterleben? So wie ich bin? Mit meinem Verhalten und der Wut, die manchmal ausbricht? Ich wollte nur … Ich wollte es beenden, ich wollte Gerechtigkeit für meine Schwester. Aber ich weiß jetzt, dass das der falsche Weg war, okay? Ich muss wenigstens verhindern, dass noch weitere schlimme Dinge wie mein Amoklauf geschehen, in dem ich den Teufel höchstpersönlich töte. Erst wenn ich das schaffe, kann es Gerechtigkeit für sie geben.« Aidan hob endlich den Blick, einige Tränen liefen über sein Gesicht und Evan schaute jeder einzelnen dabei zu, wie sie auf die Erde tropfte und spürte seinen Schmerz so sehr, dass sein Inneres sich krümmte.
Es war still. Keiner wagte es, auch nur ein Wort zu sagen, selbst der Wind schien innezuhalten.
Spencer, die leise weinte, flüsterte Aidan etwas ins Ohr, er nickte, verzog vor Gram das Gesicht und ließ sich von ihr in den Arm nehmen.
Was Aidan da gerade erzählt hatte, würde Evan nie wieder vergessen. Und er teilte Aidans Willen, den Teufel umzubringen. Wer Menschen missbrauchte, um so etwas zu tun, der konnte von niemandem mehr gerettet werden. Der Teufel musste sterben. Wieder blitzte in Evans Gedanken der kleine Junge auf. Er musste jetzt ungefähr so alt sein wie er selbst. Und er würde ihn finden. Und für alles bestrafen.
»Und das mit William? Wieso ist er jetzt derjenige, der die Kugel abgekriegt hat?«, wollte Shepard schließlich wissen.
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