»Ist alles okay?«, erkundigte sich Evan, aber nicht, weil es ihn wirklich interessierte, sondern weil er nicht unhöflich sein wollte.
»Ähm … Ja, eigentlich schon. Sie ist ein bisschen schusselig. Sperrt sich ständig aus.«
Eine Nachricht ging ein. Violet nahm ihr Handy hervor: Wir brauchen ihn. Es ist alles vorbereitet. Du kriegst die volle Ausrüstung. Wir erwarten dich in einer halben Stunde. Sie schrieb zurück: Ich werde da sein.
»Das war sie«, sagte sie und lächelte Evan an. »Tut mir echt leid, dass ich schon weg muss. Wir können das ja mal … wiederholen?«
»Sicher«, antwortete Evan. »Wir sehen uns.«
Ein wenig später saß er mit dem Notizbuch, das er vor längerer Zeit von seiner Mum bekommen hatte, am Küchentisch. Als sie es ihm geschenkt hatte, hatte er noch nicht gewusst, dass er das Ding mal brauchen würde, um ein komplettes Jahr seines Lebens darin aufzulisten, um herauszufinden, wann er zum Mörder geworden war. Auf dem Cover war die Freiheitsstatue abgebildet. Wie ironisch.
Er schlug es auf. Wo sollte er beginnen? Bei seiner Anreise war noch alles in Ordnung gewesen. Als er in seine kleine Wohnung eingezogen war, war es ihm definitiv auch noch gut gegangen.
Wann hatte er Kaya und die anderen kennengelernt?
Und so verbrachte Evan die ganze restliche Zeit des Tages, kam aber zu keinem wirklichen Ergebnis. Das, woran er sich jetzt erinnerte, war hundertprozentig passiert. Aber wieso erinnerte er sich manchmal an dieselben Dinge, aber auf unterschiedliche Weise?
Morgen würde er definitiv zur Arbeit gehen und sich mit seinen Eltern treffen. Egal, wie schlecht es ihm ging.
Zum Glück traten die Kopfschmerzen an diesem Tag kein weiteres Mal auf und so legte er sich in sein Bett, schaltete das Licht ab und trieb augenblicklich im Schlaf davon.
Mick schnarchte. Und das nicht gerade leise. Als Evan dumpf ein hämmerndes Geräusch wahrnahm, während er schlief, drehte er sich einfach herum und zog sich das Kissen über den Kopf. Aber das Hämmern wurde immer lauter. Er stöhnte genervt auf. Hatte er den Schlaf doch so dringend nötig, nach allem, was er durchgemacht hatte.
»Verdammt, Mick!«, raunte er und sprang entnervt auf, doch Micks Bett war leer. Evan stutzte. Das war mehr als ungewöhnlich.
»Mick!?«, rief Evan, als plötzlich das Fenster aufklappte. Der Wind zischte laut ins Zimmer, fuhr eiskalt über Evans nackte Arme, dass er eine Gänsehaut bekam. Erschrocken schloss er es sofort wieder, als das hämmernde Geräusch noch lauter als zuvor zurückkehrte.
»Mick!«, rief er erneut und öffnete vorsichtig die Tür des Zimmers, in dem sich die kühle Luft festgesetzt hatte. Sie knarrte laut und Evan hatte ein ungutes Gefühl. Denn wo war Mick? Er verließ sein Bett so gut wie nie und schon gar nicht nachts. Also, wo war sein Freund?
»Mick!?«, versuchte Evan es erneut, aber er wusste ohnehin, dass er keine Antwort kriegen würde. »Mick, scheiße, wo bist du?«, wisperte er und näherte sich der Tür, von der das hämmernde Geräusch auszugehen schien. Die WG war dunkel und still, ein kühler Luftzug wehte. Evan rieb sich über die Arme.
Das Ganze war faul. Da stimmte was nicht. So wie momentan gar nichts in seinem Leben stimmte. Die Wohnung gähnte ihm leer entgegen und schien sich über ihm aufzutürmen, als hätte sie ein eigenes Bewusstsein. Evan wusste es jetzt ganz genau: Da schlug jemand gegen die Tür, der unbedingt herein wollte. Zögernd schlich er auf sie zu. Der Luftzug wurde heftiger.
»Wer ist da!? Mick, bist du das?« Er wartete einen Moment ab.
»Evan, hilf mir!«, ertönte die durch und durch verängstigte Stimme seines Mitbewohners. So hatte er ihn noch nie gehört. »Mach die Tür auf, er ist hier! Ich bin verletzt, ich brauche Hilfe!«
Ohne zu zögern riss Evan seinen Koffer auf, schnappte sich die Pistole, entriegelte sie und öffnete die Tür. Er sog überrumpelt die Luft ein und wich zwei Schritte zurück. Es war nicht Mick, der da vor ihm stand. Es war ja nicht mal ein Mensch. Eine schwarze riesige Dogge mit gefletschten Zähnen und wilden Augen starrte ihn an; der Speichel triefte ihr bereits aus dem Mund. Er kannte dieses Tier. Woher? Aus seinen Träumen? Seinen Ängsten? Hatte er nicht so einen während der Wanderung gesehen? Damals, als er die Leiche gefunden hatte?
»Hilfe, Evan, hilf mir! Er hat mich! Er hat mich! Er benutzt mich!«, ertönte wieder Micks Stimme.
Der riesige Hund knurrte gefährlich und machte einen so rasanten Sprung vorwärts, dass Evan einen Schuss abfeuerte, doch – sie war nicht geladen. Die Waffe war nicht geladen.
»Verdammt!«, rief er und schmiss die Pistole beiseite, ehe er die Beine in die Hand nahm und rückwärts lief, bis er sich umdrehte und auf das Schlafzimmer zustürmte. Doch die Dogge war schnell. Sehr schnell.
Evan heulte grässlich auf, als das Fleisch an seiner Wade von den spitzen Zähnen des Hundes aufgerissen wurde und er zu Boden stürzte.
»Hilfe! H-Hilfe!«, kreischte Evan, als das Tier mit seinen schweren Pranken auf ihn sprang und ihn mit zornigen Augen anstierte. Er verschränkte die Arme vor seinem Gesicht, als der Hund zum nächsten Biss ansetzte und …urplötzlich zurückgepfiffen wurde.
Evan war sofort auf den Beinen und knickte leicht weg, als er sich auf das verletzte Bein stützen wollte. Es war sie, die ihn zurückgepfiffen hatte! Sie! Die Tote!
»Nein«, stieß er aus. »Sie sind tot! Sie sind tot! Lassen Sie mich endlich in Ruhe!«
»Evan Patrick Randall«, ertönte dann eine weitere Stimme und als Evan herumwirbelte, stand dort sein Vater – sein Gesicht war bleich und um seinen Hals lag ein Strick. »Du bist so wertlos. Zu nichts im Stande. Sieh, was ich tun muss, weil du so eine Enttäuschung bist. Hör auf zu heulen, sonst wirst du eine Schande sein! Eine Schande für deine Art!«
Bei Evan flossen vereinzelte Tränen der Angst. Der Schmerz in seinem Bein war plötzlich vergessen. Und dann blutete er aus der Nase. Und wie er blutete. Und er spürte, wie sein Gesicht zu verfaulen begann, als wäre etwas unter seiner eigenen Haut, das sich an die Oberfläche kämpfen wollte.
»Hör jetzt auf zu heulen, Junge! Du hast eine Aufgabe!«, schrie sein Vater, der jetzt mit dem Strick um den Hals von der Decke baumelte.
»Dad, verzeih mir, es tut mir leid, ich wollte das alles nicht!«
»Jetzt sei ein Mann!«
Evan wandte sich ruckartig von seinem Vater ab. Doch da war die Tote, die ihn mit ihrem leeren Gebiss anstarrte. »Evan, hör mir zu. Das hier ist nicht real. Das ist in deinem Kopf. Er lässt es dich sehen, weil er von deiner Angst profitiert. Das hier bist nicht du!«, beschwor sie ihn.
»Ich weiß, dass das nicht real ist! Sie sind tot!«
»Du musst jetzt ganz stark sein. Du musst gegen den Dämon ankämpfen, dann muss ich dir nicht wehtun.«
»Mir wehtun!? Sie haben mein Leben zerstört, was erwarten Sie von mir!?«
Dann machte er einen Satz und trat der Frau die Beine weg, schmiss sich auf ihren knochigen Körper, beugte sich über sie und packte ihren verfaulten Hals.
»Lassen Sie mich endlich in Ruhe!«, brüllte er und drückte zu, überrascht von seiner eigenen rohen Gewalt, als er plötzlich zusammenfuhr und ein dumpfer Schlag seinen Hinterkopf traf.
Evan hatte für mehrere Augenblicke bloß Sterne gesehen, bis er wieder im Stande war, die Augen zu öffnen und erschrocken um sich trat.
Der Hund. Die Frau. Sein Vater.
Er schnappte nach Luft und war sofort auf den Beinen. Sie waren weg. Sie waren endlich weg. Er lag dort, wo er ohnmächtig geworden war, mitten in dem Raum, der zugleich Küche als auch Esszimmer war. Dumpf verspürte er den Schmerz an seinem Hinterkopf, aber dieser war jetzt vollkommen nebensächlich, denn die Wohnungstür stand sperrangelweit auf und neben ihm, da kniete Violet.
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