»Mum, ich wollte nicht—«
»Margret, gib mir das Telefon!«, ertönte im Hintergrund jetzt die tiefe grummelnde Stimme seines Vaters.
Evan erstarrte und rupfte frustriert einige Grashalme aus der Wiese. Er wollte ganz sicher nicht mit seinem Vater reden, doch in der Leitung knisterte es und dann hatte Lance Randall das Telefon. »Du wagst es, dich wie ein Feigling aufzuführen und deiner Mutter solche Sorgen zu bereiten!?«, rief, ja schrie er fast.
Und im Hintergrund die zarte Stimme seiner Mum: »Lance, sei nicht so streng mit ihm, bitte, Lance.«
»Ach was, der Junge tickt nicht mehr richtig!«
Evan schnaubte. Er hasste es, wenn sein Vater so sprach. Er hatte es schon immer gehasst. »Jetzt hör mir mal zu! Ich bin kein kleines Kind mehr, klar? Ich bin erwachsen und deshalb bin ich dir weder Rechenschaft schuldig, noch lasse ich mich von dir behandeln als wäre ich dein Leibeigener! Mir geht’s gut, ich komme euch bald besuchen und Mum braucht sich keine Sorgen zu machen. Ist das klar?«
Das erste Mal in seinem Leben hatte Evan seinem Vater ernsthaft die Stirn geboten und in seinem tiefsten Innern machte ihn das stolz. Das darauffolgende Schweigen schien jedoch schier endlos.
»Wenn du schon weglaufen musst, dann tu wenigstens, was du tun musst. Keine halben Sachen, hörst du mich?«, rief Evans Vater. In seiner Stimme glaubte er, auch ein wenig Sorge herauszuhören. Aber vielleicht irrte Evan sich auch.
»Lance, bitte! Gib ihn mir wieder!« Schließlich war seine Mutter wieder am Hörer.
»Mum, mach dir keine Gedanken. Ich komme ja wieder.«
Sie schniefte und musste erstmal tief Luft holen, ehe sie sprechen konnte. »Wir wollten dir das eigentlich heute beim Essen in Ruhe sagen, aber du lässt mir ja keine Wahl.« Sie schwieg so lange, dass Evan schon daran zweifelte, dass sie überhaupt weitersprechen würde. »Dein Vater und ich lassen uns scheiden. Wir haben entschieden, dass es so am Besten ist.«
Evan traf die Nachricht zwar unvorbereitet, aber überrascht war er nicht. Er erinnerte sich noch daran, als sich Prestons Eltern in der achten Klasse scheiden gelassen hatten. Der Ärmste war am Boden zerstört gewesen. Doch Evan wusste, dass seine Eltern längst nicht mehr das füreinander empfanden, das man als Eheleute empfinden sollte. »Mum, du lässt dich schon zu lange von ihm herumkommandieren. Ich verstehe es.«
»Schatz, ich liebe dich. Und dein Dad liebt dich auch. Er will nur, dass du ein gutes Leben hast. Er meint es gut.«
»Mum, ich muss jetzt auflegen. Bis bald.« Ohne ihre Abschiedsworte abzuwarten, legte er auf. Einen Moment lang starrte er nur nach vorn auf seine nun von Grasflecken bedeckte Jeans. Seine Eltern trennten sich also. Nach all den Jahren Ehe. Vielleicht hätte er einige Dinge lieber nicht gesagt … Aber andererseits bereute er es auch nicht. Evan holte tief Luft. Eigentlich war er Preston und Mr Danburry noch eine ordentliche Erklärung für sein ungewöhnliches Verhalten schuldig, aber nach diesem Gespräch hatte er dazu einfach keine Kraft mehr. Also rappelte er sich auf, klopfte ein paar Grashalme von seiner Hose ab und machte sich auf den Weg zu Mrs Shepards Hütte, in der er auf weitere Antworten hoffte.
»Evan, schön, dass du hier bist«, sagte Mrs Shepard, als Evan vor ihr in der Hütte stand, in der es jetzt nicht mehr nach Kräutern roch, so wie bei seinem letzten Besuch, sondern nach etwas ganz anderem Undefinierbarem. Evan rümpfte die Nase. Es stank.
»Und wie funktioniert das jetzt? Was tun sie mit mir?«
Mrs Shepard lächelte, nahm ein Streichholz und zündete einige herumstehende Kerzen an, ehe sie unter einem braunen Tuch eine Badewanne enthüllte und der Gestank sich verstärkte.
Evan wandte angewidert den Kopf ab. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er die Alte an.
»Damit wir mit der Prozedur beginnen können, bitte ich dich, jetzt deine Kleidung abzulegen.«
Evan lachte nervös auf. »Sind Sie verrückt? Ich steige nicht in diese Brühe!« Er beugte sich etwas vor, um in die Wanne sehen zu können. Das Wasser war klar, doch der Gestank nach säuerlicher Verwesung blieb.
»Das ist keine Brühe. Das ist Weihwasser. Weihwasser und…Tod.«
Verständnislos starrte er sie an. »Tod!?«
»Es sind bloß Fischkadaver, Evan, mach dir keine Sorgen. Aber der Tod muss bei diesem Ritual stets präsent sein, um dich aus des Teufels Fängen zu befreien. Und jetzt entledige dich bitte deiner Kleidung und steige hinein.«
Mit zusammengekniffenen Augen dachte Evan einen Moment darüber nach, einfach zu verschwinden und nicht das zu tun, was sie sagte. Doch alle anderen hier hatte sie anscheinend von der … Besessenheit, wie Rayna es genannt hatte, erfolgreich befreien können. Und er wollte Kaya, Ivy, Jimmy und Dave niemals wiedersehen.
»Schön«, grummelte er also und knöpfte seine Hose auf. Shepard machte dabei keinerlei Anstalten, sich abzuwenden. Er zog sich bis auf die Unterhose aus.
»Die auch, Evan. Du musst rein sein.«
Brodelnd vor Wut und voller demütigender Scham tat er, was die alte Frau ihm befahl und stieg angewidert in die stinkende Wanne.
»Und jetzt … stell dich.« Mit diesen Worten packte Mrs Shepard Evan an den Schultern und drückte ihn mit immenser Kraft unter Wasser. Und dann prasselten die Kopfschmerzen zum vermeintlich letzten Mal auf ihn ein.
Evan hatte nicht mal die nötige Zeit, um zu strampeln oder sich aus Shepards Griff zu befreien. Er hatte die Kopfschmerzen jetzt schon häufiger verspürt, aber es gab kein einziges Mal, bei dem es wohl weniger quälend sein würde. Sofort, als er von Weihwasser und … wie Shepard es genannt hatte … von Tod umgeben war, befand er sich nicht mehr in der Badewanne, sondern lag auf seinem alten Bett, dem, das seins gewesen war, als er noch bei seinen Eltern gewohnt hatte.
Er schlug die Augen auf und starrte geradeaus an die weiße Decke. Verwirrt richtete er sich auf. Sein altes Zimmer mit den blauen Wänden. Seine Kleidung. Er erinnerte sich noch sehr gut an diese Situation, denn seine Hände waren mit etwas Farbe bedeckt. Evan war wieder in seinem sechzehnjährigen Ich und die Farbe an seinen Händen kam von Spraydosen, mit denen er damals die hintere Hauswand verschönert hatte - Ein rebellischer Akt, der seinen Vater wütend machen sollte, wobei er natürlich keinen blassen Schimmer gehabt hatte, dass sich sein Vater an diesem Tag mit seinem Vorgesetzten aus der Kanzlei treffen und dieser Evans Kunstwerk dann zu sehen bekommen würde.
Es war jetzt bereits Abend. Evan, der neunzehnjährige Evan, der keine Ahnung hatte, wieso er wieder sechzehn und in seinem alten Zimmer war, wusste, was damals geschehen war. Sein Vater war ins Zimmer gestürzt. Mit hochrotem Kopf und vor unbändiger Enttäuschung schnaubend.
Und so geschah es zu seinem Entsetzen auch jetzt und sofort schlug Evans Herz so rasend, dass er nach Luft schnappen musste. Sein Dad riss die Tür auf, stürmte herein und packte Evan am Kragen, riss ihn vom Bett und schlug ihn gegen die Wand. »Was hast du da gemacht, he? Hab ich dir in deinem Leben nie was beigebracht? Was fällt dir ein, dich so zu verhalten!?«, rief er und verpasste Evan einen Fausthieb. Er war wie damals wie gelähmt, verspürte keinerlei Schmerz.
»Du hast mir alles versaut, wie immer, du hast es versaut!«, rief er immer wieder und schlug auf seinen Sohn so lange ein, bis dieser mit starrem Blick, um vor seinem Vater nicht zu weinen, auf den Boden sank und Es tut mir leid stammelte. So schlimm wie in dieser Situation war es nie wieder gewesen.
Und in diesem Moment, da hatte er Angst gehabt. Angst vor seinem eigenen Vater.
Aber die Umgebung veränderte sich plötzlich, alles verschwamm um ihn herum und nun befand er sich am See, in New York, neben Kaya. Die anderen waren auch da und Ivy alberte mit Jimmy und Dave herum, die im Stillen beide um ihre ungeteilte Aufmerksamkeit kämpften. Es war schon sehr spät und das Lagerfeuer knisterte. Der Geruch der Marshmallows, die sie geröstet und gegessen hatten, lag noch in der Luft.
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