»Und wie hat Shepard dann Wind davon bekommen?«
Rayna tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab und machte sich dann daran, ihren Zopf neu zu binden, als wäre es für sie das einfachste der Welt, darüber zu sprechen. »Wir haben uns bei ihr gemeldet. Will hat im Internet eine Anzeige gesehen: Ich kann euch helfen, wenn ihr Todesängste habt oder sowas ähnlich bescheuertes. Aber wir sind drauf eingegangen, weil wir nicht wussten, was wir sonst tun sollten und wir haben Hilfe gesucht, wo wir sie nur kriegen konnten.«
»Was … was hast du schlimmes gemacht?«, fragte Evan zögernd. Er wollte es unbedingt wissen. Jemand wie sie konnte niemals etwas so schreckliches wie er tun. Das war unmöglich.
Rayna senkte den Blick. Will wusste es sicherlich. »Seit ich mich daran erinnere, kann ich mir im Spiegel nicht mehr selbst in die Augen sehen.«
»Was war es?«
»Ist es okay, wenn ich es dir nicht erzähle? Ich … Ich verspreche auch, dich nicht nach deiner Tat zu fragen.«
Irgendwie kränkte Evan das, aber er konnte sie ja verstehen. Allerdings hätte er sich ihr geöffnet. Sie gab ihm das Gefühl, dass er das bei ihr tun könnte. »Natürlich.« Vielleicht war es aber auch besser so.
»Danke. Ähm … Wollen wir uns dann jetzt wieder auf den Rückweg machen?«
»Wenn das bedeutet, dass wir wieder laufen, dann lieber nicht.«
»Hey, ich hab dich schon geschont. Komm!«, rief sie, nahm ihn bei der Hand und zog ihn von seinem Stuhl.
Glücklicherweise hielt Evan durch, ohne mehr als vier Pausen einzulegen, was ihn sogar selbst sehr wunderte. Als sie wieder im Camp angekommen waren, ließ Evan sich völlig verschwitzt und erleichtert auf die Wiese fallen. Rayna atmete jetzt ebenfalls heftig und stemmte ihre Hände in die Hüfte.
»Hey! Ihr wart ja schnell!«, begrüßte Will die beiden und schlang seine Arme um Rayna.
»Nicht Will, ich bin ganz verschwitzt!«, sagte sie lachend, aber er küsste sie trotzdem. Etwas peinlich berührt rappelte Evan sich auf und wandte sich von den beiden ab. Sein Schädel brummte noch vor Anstrengung, aber er fühlte sich gut. Irgendwie befreit und nicht, als stünde er inmitten eines Tunnels, an dessen Ende er seinen Verstand verlieren würde.
»Evan!«, rief Violet plötzlich, die gerade aus ihrer Hütte kam und eilte zu ihm, gab ihm seine Kleidung, die er in ihrer Hütte gelassen hatte.
»Hey«, sagte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Wie kommst du klar?«
Er schluckte. »Jetzt gerade geht es mir besser.«
»Mrs Shepard hilft dir gleich. Du sollst zu ihr kommen, wenn du dich gewaschen und umgezogen hast.«
»Wo kann ich mich hier überhaupt waschen?«
»Etwas weiter da unten ist ein kleiner See. Und … dein Handy hat nicht aufgehört zu klingeln und deine Mutter versucht, dich zu erreichen. Auch Pres und ein gewisser Mr Danburry haben angerufen.«
Evan seufzte. Und mit einem Mal waren da wieder all die Probleme, all der Schrecken und all das Groteske. Aber nein. Noch nicht. Er wollte nur noch eine kurze Weile in der Vorstellung leben, alles wäre in bester Ordnung, in der Vorstellung, es wäre normal, hier bei diesen fremden Menschen zu sein. »Ich regele das nachher.«
»Okay«, meinte sie und Evan ging los Richtung See. Dort zog er Schuhe und Trainingskleidung aus und ließ seine Füße ins Wasser baumeln. Er sah sich verstohlen um, ob ihn wer beobachtete, zog seine Boxershorts aus und glitt nun vollständig ins erleichternd kühle Wasser. Er wusch sorgfältig und in aller Ruhe, um jeden Moment, in dem er nicht an seine Morde denken musste, herauszuzögern, sein Haar. Das Wasser war so kühl, dass es seinen Körper zu betäuben schien und den konfusen Schmerz und die Gedanken an das Wirrwarr in seinem Leben und an Gott, Engel, den Teufel und Todsünden vollkommen vertrieb. Er holte Luft und tauchte unter Wasser. Hier unten war alles so still und ruhig. Das Wasser war klar und sauber, nur ein paar Meter unter ihm war bereits der Boden des kleinen Sees.
Evan erschrak, als er plötzlich ein weiteres Paar Beine ausmachen konnte, tauchte augenblicklich auf und schnappte nach Luft. Ein paar wenige Meter weiter wusch Rayna sich gerade das Haar.
Sie trug einen Sport-BH, was Evan ziemlich erleichternd fand, aber dennoch wollte er nicht länger mit ihr im Wasser bleiben. Er wollte gerade aus dem Wasser steigen und schnell seine Hose anziehen, als sie sich zu ihm drehte.
»Und, hast du nachgedacht?«, fragte sie und er räusperte sich, versuchte, ihr in die Augen zu schauen und seinen Blick nicht an andere Stellen huschen zu lassen.
»Ü-Über was?«, fragte er und widmete sich mit voller Konzentration der Aufgabe, wiederholt sein Gesicht zu waschen.
»Über das, was ich dir heute erzählt habe. Denkst du, du kannst mir glauben?«, fragte Rayna und strich ihr Haar nach hinten.
»Ich weiß nicht, ich …«
»Glaub mir, ich verstehe dich nur zu gut, aber … Hier, schau mal.«
Sie kam auf ihn zu und blieb nur einen halben Meter von ihm entfernt stehen. Evan schluckte schwer und sah ihr fragend in die Augen. Er konnte spüren, wie er vor Verlegenheit rot wurde. Ihr hingegen schien das überhaupt nichts zu machen.
»Das ist echt«, erklärte sie und streckte ihm ihr feuchtes Handgelenk entgegen, an dem die gleiche Tätowierung prangte, das er schon bei Violet gesehen hatte.
»Das steht für Angelus Clamor, richtig?«, fragte er und strich über das Symbol, zog seine Hand aber sofort wieder zurück.
Sie nickte. »Glaubst du, ich hätte das, wenn mir die Aufgabe des Camps nicht ernst wäre?«
Er schüttelte den Kopf.
»Vielleicht kannst du klarer drüber nachdenken, wenn du…diese Besessenheit endlich los bist«, meinte sie und entfernte sich wieder von ihm.
»Besessenheit?«
»Der Teufel hat dich zu seinem Werkzeug gemacht und durch deine Hand gemordet. Und wenn er dich unter seiner Kontrolle hat, zieht das nicht einfach an dir vorbei.«
»Der Teufel …«, murmelte Evan mehr zu sich selbst und das Gesicht des kleinen Jungen, der sich vor elf Jahren über die tote Frau gebeugt hatte, blitzte in seinen Gedanken auf. Jemand so grausames … Er musste jetzt dringend seine verpassten Anrufe beantworten und dann mit Shepard sprechen.
»I-Ich würd gern …«, stammelte Evan und deutete aufs Camp.
»Oh, sicher«, sagte sie lächelnd und drehte ihm den Rücken zu.
Schnell stieg er aus dem Wasser, zog sich an und hastete zu seinem und Wills Zelt, schnappte sich sein Handy und erschrak: Zwölf verpasste Anrufe von seiner Mum, einer von Preston und zwei von Mr Danburry. Er hatte einiges klarzustellen.
Aber eins stand für ihn mittlerweile fest; er hatte einen Entschluss gefasst, in dem Moment, in dem er an den Jungen gedacht hatte, der so sanft über den wunden Schädel der Toten gestrichen hatte: Evan würde hier bleiben.
»Hi, Mum … Ich bin’s«, stammelte Evan zögernd und biss sich mit zusammengekniffenen Augen auf die Unterlippe. Er hatte sich im Gras niedergelassen und starrte hinüber zu den Hütten und Zelten. Verrückt. Das war alles verrückt. Aber das war er auch und deshalb hatte er das dumpfe Gefühl, dass er hierher gehörte.
»Evan! Verdammt nochmal, wo in Gottes Namen bist du!?«, rief seine Mutter mit vor Sorge zitternder Stimme. Es tat weh, sie so zu hören und doch beabsichtigte er keineswegs, zurückzukehren und ihr das Leid zu nehmen.
»Es tut mir leid. Ich…Ich bin mit Freunden unterwegs. Ich brauche einfach eine Pause von…allem.«
»Dein Auto steht noch hier, Mick hat auch keine Ahnung, wo du bist, du hast … Gott, Evan, du hast deinen heiß geliebten Job gekündigt und … und eine merkwürdige Nachricht hinterlassen, die so gar nicht zu dir passt! Wieso tust du mir das an?«, fragte sie und klang schwach und traurig und unglaublich enttäuscht.
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