»Und wann sind dir das erste Mal Dinge erschienen, die nicht real sein konnten? Wann kamen die Kopfschmerzen? Wann hat sich deine Erscheinung verändert?«
»Als ich wieder in Brighton war. Kurz nach meiner Ankunft hab ich angefangen, Dinge zu sehen, die niemand sonst sehen konnte.« Von dem Vorfall vor elf Jahren wollte er ihr nichts erzählen. Die Alte musste ja nicht alles wissen.
»Ja, ich verstehe. Und hast du das Gefühl, dass das alles intensiver wird? Oder ebbt es ab?«
»Es wird von Mal zu Mal schlimmer, quälender.«
»Glaubst du, du bist ein guter Mensch, Evan?«
»I-Ich habe—«
»Ich wiederhole: Glaubst du, du bist ein guter Mensch?«
»Ja. Ja, das glaube ich.«
»Das wäre dann alles. Du kannst gehen.«
»Nein, nein, nein. Sie haben mir Antworten versprochen!«
»Da hast du recht. Die bekommst du. Aber bevor wir anfangen, muss ich ein paar Vorbereitungen treffen. Ich helfe dir, den Dämon zu vertreiben, aber bis dahin melde dich bitte bei Rayna. Sie gibt dir deine Trainingskleidung und geht mit dir laufen. Dabei bekommst du deinen Geist frei. Und sie wird dir einige erste Fragen beantworten.«
Evan verdrehte die Augen, wollte protestieren, aber am eisernen Blick der Alten sah er seine Chancenlosigkeit. Er taumelte benommen aus der Hütte und schlug die Tür mit voller Wucht hinter sich zu.
»Wow, sachte, Neuling!«, rief Aidan ihm zu, aber er ignorierte seine Bemerkung.
Er sollte zu Rayna. Antworten. Sie würde ihm Antworten geben.
Rayna wohnte in einer Hütte mit Violet und dieser anderen. Er hatte ihren Namen vergessen. Aber an Rayna erinnerte er sich. Sie hatte gelesen. Einen dicken Wälzer, so wie er es früher gerne getan hatte. Erschöpften Ganges schlurfte er rüber zu der Hütte und klopfte vorsichtig an.
Rayna öffnete die Tür mit einem offenen und warmherzigen Lächeln. Wie konnten sie alle hier nur so ruhig bleiben, bei den Dingen, die vor sich gingen?
»Hey!«, sagte sie. »Komm rein!«
Zögernd trat Evan in die Hütte. Violet und die andere - Spencer war ihr Name gewesen - schienen nicht da zu sein.
»Hat Mrs Shepard dir erklärt, was wir jetzt machen?«, fragte sie und band sich dabei ihr braunes Haar zu einem Zopf.
»Wieso tanzt ihr alle nach ihrer Pfeife? Ich … verstehe es einfach nicht. Wie kann eine alte Frau so viel Einfluss auf euch haben?«, sprudelte es aus Evan heraus, während er seinen Blick nervös durch die Hütte schweifen ließ.
Rayna seufzte. »Ich habe es auch nicht verstanden. Ich bin nächsten Monat ein Jahr hier und weißt du, ich habe gelernt, zu verstehen, wieso wir das tun, was wir nun mal tun.«
Evan ließ sich auf eines der Betten sinken. »Und was tut ihr?«
»Wenn ich dir das sage, wirst du uns für verrückt halten.«
»Das tue ich doch jetzt schon«, gab er zurück und sie lächelte.
»Hör zu, ich werde dir gleich alles sagen, was ich weiß, okay?« Sie schnappte sich eine Trainingsjacke bei der auf der Schulter wieder dieses Symbol aufgedruckt war. »Hier«, sagte sie und warf ihm ein paar zusammengefaltete Kleidungsstücke zu und stellte ihm Schuhe bereit.
»Woher kennt ihr meine Größen?«, fragte er misstrauisch. Das alles wurde zunehmend merkwürdiger.
»Violet hat ein bisschen geforscht.« Rayna lächelte. »Okay, zieh dich um, ich warte vor der Hütte auf dich.«
Als sie die Tür hinter sich schloss, war Evans erster Impuls, sich wie ein Embryo zusammenzurollen und nie wieder aufzustehen. Aber er brauchte diese Antworten, also musste er den Lauf mit Rayna hinter sich bringen und dann würde er endlich mehr erfahren. Also legte er seine Kleidung schleunigst ab, schlüpfte in das Trainingszeug und in seine Turnschuhe und verließ die Hütte, wo Rayna gerade mit Will sprach. Als sie ihn rauskommen sah, küsste sie Will und bedeutete Evan, ihr zu folgen.
Rayna joggte los, Evan lief dicht neben ihr her.
»Wo geht’s jetzt hin?«, fragte er.
»Zur Küste. Die ist wunderschön. Das Beste an Brighton, wie ich finde.«
»Wie weit ist das denn von hier? Ich hab ja nicht mal ‘ne Ahnung, wo wir überhaupt sind.«
»In der Nähe von Burgess Hill.«
»Also außerhalb Brightons?«
»Ja. Aber nicht weit. Mit dem Auto dreißig Minuten.«
»Als Violet mich hergefahren hat, hat das um einiges länger gedauert.«
»Deine Zeiteinschätzung kann verschwimmen. Dafür sorgt der, der dich heimsucht.«
»Warte mal.« Evan blieb stehen. »Von Burgess Hill bis Brighton sind es garantiert um die drei Stunden zu Fuß!«
»Training ist hart. Du musst vorbereitet sein. Und soll ich dir was sagen? Ich wette, wir schaffen es in zwei.« Dann lächelte sie und joggte weiter.
Evan holte tief Luft und hatte Rayna schon bald wieder eingeholt. Die erste Stunde, in der sie sich einen Weg durch die Straßen bahnten, ging schnell vorüber. Doch in der nächsten halben Stunde hatte Evan bereits ganz schön zu kämpfen. Von oben bis unten mit Schweiß bedeckt, stützte er sich auf seine Knie, als er eine Bank sah und blieb schließlich stehen. »Warte!«, japste er. »Hey, ich brauch ‘ne Pause.« Mit rauschenden Ohren und brennender Lunge ließ er sich auf die Bank sinken und verschnaufte. Seine Sicht war getrübt und ihm schmerzte so ziemlich jeder Muskel. Aber Mrs Shepard hatte Recht behalten: Das Laufen half ihm auch, den Kopf freizukriegen. Der Schmerz lenkte ihn ab, ließ ihn etwas klarer denken.
Rayna musste lachen und setzte sich schließlich zu ihm. Sie sah nicht mal halb so fertig aus wie er.
»Wie kannst du das nur … Ich meine … Wie schaffst du das?«, keuchte er. »Ich muss etwas trinken.«
»Eigentlich ist der Sinn ja, zu lernen, ohne auszukommen.«
Evan starrte sie an, als wäre sie verrückt. »Ich sterbe, wenn ich nicht gleich was zu Trinken kriege!«
»Du kannst das auch ohne. Du würdest dich wundern, was ein menschlicher Körper unter extremen Zuständen alles schafft.«
»Was soll das hier, he? Dieses beschissene Überlebenstraining. Ich brauch das nicht!« Und schon holten ihn die tatsächlichen Umstände wieder ein. Wofür tat er das hier überhaupt?
»Glaub mir, du brauchst es«, erwiderte Rayna ernst und sah ihm fest in die Augen.
»Bitte sag mir, was hier los ist. Bitte.«
»Das sollte eher deine Belohnung sein«, meinte sie und seufzte. »Noch eine Stunde, dann erzähle ich dir mehr, okay?«
»Rayna, ich will nicht mehr weiter laufen. Ich will wissen, was das hier soll.«
»Anstrengung löst deinen Geist. Evan, komm schon. Vertrau mir.« Sie streckte ihm ihre Hand hin.
Evan sah sie einen Moment lang an und schüttelte schließlich den Kopf, sprang auf und joggte geradewegs an ihr vorbei.
Die nächste Stunde war die reinste Qual für Evan, während Rayna gerade erst ins Schwitzen kam. Seine Beine fühlten sich an wie Gummi, seine Lunge schien zu platzen und seine Kehle war ausgetrocknet. Wenn er daran dachte, dass er erst die Hälfte geschafft hatte und den ganzen Weg auch noch zurück musste, wollte er losschreien.
»Okay!«, rief Rayna irgendwann, als sie in einem Stadtzentrum angekommen waren. »Machen wir eine Pause.«
Dankbar hielt Evan inne und ließ sich an eine Hauswand gelehnt auf den Boden sinken. Die Menschen, die sich ringsum befanden, blendete er vollkommen aus, so wie auch die Umstände, in denen er sich eigentlich befand. »Meine Lunge«, keuchte er und hielt sich die Hand auf die sich rasant hebende Brust.
»Du hast Glück, dass ich dich leiden kann. Ich hol uns was. Warte hier.« Rayna ließ ihn kurz allein und Evan presste die Augen fest zusammen, bis er Sterne sah. Verrückt. Das war alles so verrückt und trotzdem musste er gerade lächeln.
Nach ein paar Minuten kehrte Rayna mit zwei kalten Wasserflaschen zurück. »Trink aber nicht zu schnell, sonst übergibst du dich.«
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