Betrachte jene, die auf der Leiter stehen: Es sind Menschen mit Engelherzen oder Engel mit menschlicher Gestalt. Sie sind nicht jung, sehen aber kraftvoll und gelenkig aus; sie haben Flügel, um sich durch das heilige Gebet zu Gott zu erheben, aber auch Füße, um mit den Menschen zu verkehren in heiligem, liebenswürdigem Wandel. Ihr Antlitz ist schön und heiter, sie nehmen alles in Ruhe und Sanftmut an. Das Haupt, die Füße und Arme sind unbedeckt, weil ihre Gedanken, Wünsche und Handlungen kein anderes Ziel verfolgen, als Gott zu gefallen. Im übrigen ist ihr Körper bedeckt mit einem schönen, leichten Gewand, weil sie sich wohl der Welt und ihrer Güter bedienen, aber in ganz reiner und gerader Absicht, und nur gebrauchen, was ihr Stand verlangt. Das sind die frommen Menschen.
Glaube mir, die Frömmigkeit ist das Schönste, was es gibt. Sie ist die Königin der Tugenden, die Vollendung der Liebe. Ist die Liebe eine Pflanze, dann ist die Frömmigkeit ihre Blüte; ist sie ein Edelstein, dann ist die Frömmigkeit sein Glanz; ist sie ein kostbarer Balsam, dann ist die Frömmigkeit dessen Duft, ein lieblicher Duft, der die Menschen erquickt und die Engel erfreut.
Die Frömmigkeit paßt zu jedem Stand und Beruf.
Bei der Schöpfung befahl Gott den Pflanzen, Frucht zu tragen, jede nach ihrer Art (Gen 1,11). So gibt er auch den Gläubigen den Auftrag, Früchte der Frömmigkeit zu tragen; jeder nach seiner Art und seinem Beruf. Die Frömmigkeit muß anders geübt werden vom Edelmann, anders vom Handwerker, Knecht oder Fürsten, anders von der Witwe, dem Mädchen, der Verheirateten. Mehr noch: die Übung der Frömmigkeit muß auch noch der Kraft, der Beschäftigung und den Pflichten eines jeden angepaßt sein.1
Wäre es denn in Ordnung, wenn ein Bischof einsam leben wollte wie ein Kartäuser? Oder wenn Verheiratete sich so wenig um Geld kümmerten wie die Kapuziner? Kann ein Handwerker den ganzen Tag in der Kirche verbringen, wie die Mönche es tun? Dürfen anderseits Mönche aus beschaulichen Orden jedermann zur Verfügung stehen, wie es der Bischof muß? - Eine solche Frömmigkeit wäre doch lächerlich, ungeordnet, ja unerträglich. Solche Dinge kommen aber oft vor. Weltmenschen, die den Unterschied zwischen der Frömmigkeit und ihren Zerrbildern nicht kennen oder nicht kennen wollen, schmähen dann die Frömmigkeit, die wahrhaftig keine Schuld an solcher Unordnung trifft.
Nein, echte Frömmigkeit verdirbt nichts; im Gegenteil, sie macht alles vollkommen. Verträgt sie sich nicht mit einem rechtschaffenen Beruf, dann ist sie gewiß nicht echt. Die Bienen, sagt Aristoteles, entnehmen den Blumen Honig, ohne ihnen zu schaden; sie bleiben frisch und unversehrt. Die echte Frömmigkeit schadet keinem Beruf und keiner Arbeit; im Gegenteil, sie gibt ihnen Glanz und Schönheit. Kostbare Steine erhalten einen höheren Glanz, jeder in seiner Farbe, wenn man sie in Honig legt. So wird auch jeder Mensch wertvoller in seinem Beruf, wenn er die Frömmigkeit damit verbindet. Die Sorge für die Familie wird friedlicher, die Liebe zum Gatten echter, der Dienst am Vaterland treuer und jede Arbeit angenehmer und liebenswerter.
Es ist ein Irrtum, ja sogar eine Irrlehre, die Frömmigkeit aus der Kaserne, aus den Werkstätten, von den Fürstenhöfen, aus dem Haushalt verheirateter Leute verbannen zu wollen.
Gewiß, die beschauliche und klösterliche Frömmigkeit kann in diesen Berufen nicht geübt werden. Aber es gibt ja außerdem noch viele Formen eines frommen Lebens, die jene zur christlichen Vollkommenheit führen, die in einem weltlichen Stand leben. Im Alten Bund sehen wir als Beispiele Abraham, Isaak, Jakob, David, Job, Tobias, Sara, Rebekka, Judith. Im Neuen Bund führten ein Leben vollkommener Frömmigkeit die Heiligen Josef, Lydia, Krispin in den Werkstätten, Anna, Martha, Monika, Aquila und Priszilla im Haushalt, Kornelius, Sebastian, Mauritius als Soldaten, Konstantin, Helena, der hl. Ludwig, der selige Amatus, der hl. Eduard auf dem fürstlichen Thron.
Es ist sogar geschehen, daß Menschen ihre Vollkommenheit in der Einsamkeit verloren haben, obwohl sie für ein frommes Leben so geeignet ist, und sie inmitten der Gesellschaft bewahrt haben, die dafür wenig günstig erscheint. Von Lot sagt der hl. Gregor, er sei in der Stadt ganz keusch geblieben, in der Einsamkeit habe er seine Seele befleckt. Wo immer wir sind, überall können und sollen wir nach einem Leben der Vollkommenheit streben.
Für den Beginn des frommen Lebens und dessen Fortschritt ist ein Seelenführer notwendig.
Der junge Tobias erhielt von seinem Vater den Auftrag, nach Rages zu gehen; er wandte ein, daß er den Weg nicht kenne. Geh also", sagte der Vater, und suche dir einen Führer" (Tob 5,2ff). Ich sage dir dasselbe: Willst du dich mit Vorbedacht auf den Weg der Frömmigkeit begeben, so suche dir einen vortrefflichen Mann als Führer und Berater. Das ist der dringlichste Rat. den ich dir geben kann. Was du auch suchst, sagt der fromme Avila, du wirst den Willen Gottes nirgends so sicher finden als auf dem Weg demütigen Gehorsams, den einst alle Frommen geübt und sehr empfohlen haben.
Die hl. Theresia bewunderte die strengen Bußübungen einer Katharina von Cordona und wollte es ihr gleichtun. Der Beichtvater verbot es ihr, sie war aber versucht, ihm darin nicht zu gehorchen. Da sprach Gott zu ihr: Meine Tochter, du hast einen guten und sicheren Weg. Siehst du auf ihre Bußübungen? Ich liebe mehr deinen Gehorsam." Von da an liebte sie den Gehorsam so sehr, daß sie außer dem pflichtmäßigen Gehorsam gegen ihre Oberen noch einem vortrefflichen Priester Gehorsam gelobte und sich verpflichtete, seiner Führung und Leitung zu folgen; dies brachte ihr sehr viel geistliche Freude ein. Vor und nach ihr haben viele frommen Menschen ihren Willen einem Diener Gottes unterstellt, um sich dadurch besser dem heiligen Willen Gottes zu unterwerfen. Die hl. Katharina von Siena hebt das in ihren Zwiegesprächen lobend hervor. Die heilige Fürstin Elisabeth leistete dem Meister Konrad unbedingten Gehorsam, der große hl. Ludwig gab vor dem Tod seinem Sohn unter anderem diesen Rat: Geh oft zur heiligen Beichte, suche dir einen geeigneten, klugen Beichtvater, der dich mit Sicherheit in den Dingen unterweisen kann, die dir notwendig sind."
Ein treuer Freund", sagt die Heilige Schrift, ³ist ein starker Schutz; wer ihn findet, hat einen Schatz gefunden. Ein treuer Freund ist ein Balsam für das Leben und für die Unsterblichkeit; wer Gott fürchtet, findet ihn" (Sir 6,14ff). Du siehst, wie diese Worte vor allem die Unsterblichkeit betreffen, für die wir einen treuen Freund brauchen. Durch seine Ratschläge und Weisungen leitet er unseren Wandel und schützt uns vor den Nachstellungen und Verführungen des bösen Feindes. Er wird uns ein Born der Weisheit in unseren Schwierigkeiten sein, wenn wir niedergeschlagen oder gefallen sind. Er wird uns Arznei sein, um das Herz in seinen seelischen Nöten aufzurichten und zu trösten. Er wird uns vor dem Übel bewahren und das Wohl unserer Seele fördern. Befällt uns eine Schwäche, so wird er verhindern, daß sie zum Tode führe, und wird uns wieder aufhelfen.
Wer aber wird diesen Freund finden? Der Weise antwortet: Wer Gott fürchtet", das heißt der Demütige, der durchdrungen ist von der Sehnsucht nach geistlichem Fortschritt. Da ein guter Führer auf dem Weg der Vollkommenheit so wichtig ist, bete inständig zu Gott, daß er dir einen nach seinem Herzen schenke. Sei versichert: müßte Gott dir auch einen Engel vom Himmel schicken wie dem jungen Tobias, er wird dir einen guten und treuen Führer geben.
Er soll dir aber wirklich wie ein Engel sein; das heißt: hast du ihn gefunden, so betrachte ihn nicht als gewöhnlichen Menschen; setze dein Vertrauen nicht auf seine Person noch auf sein menschliches Wissen, sondern auf Gott. Er wird dir seine Gunst erweisen und durch diesen Menschen zu dir sprechen, ihm das in Herz und Mund legen, was deinem Glück dient. Deshalb mußt du auf ihn wie auf einen Engel hören, der vom Himmel herabgestiegen ist, um dich emporzuführen. Sprich mit ihm ganz offen, aufrichtig und einfach. Zeige ihm mit aller Klarheit das Gute wie das Böse an dir, ohne etwas zu verschleiern oder zu verheimlichen. So wird das Gute in dir erprobt und gefestigt, das Schlechte gebessert und geheilt. In Schwierigkeiten wirst du Erleichterung finden; wenn geistliche Freude dich erfüllt, wird er dich Maß und Ordnung halten lehren.
Читать дальше