1 ...8 9 10 12 13 14 ...23 »Gut, es geht doch auch ohne Ausfälle. Was für Gebiete gelten als zu sehr verschmutzt? Auch mal jemand aus den hinteren Reihen.« Frau Dorsch gab nie auf, wenn es um die Bildung ihrer Schüler ging. Term hatte mal eine Zeit hinten gesessen, aber schnell festgestellt, dass man vorne an der Arbeitsstation des Lehrers mehr Ruhe hatte. Jeder ging davon aus, dass die Streber vorne saßen und die wurden dann auch seltener gefragt. Frau Dorsch viel darauf leider nicht rein.
»… danke Lena, das CO 2hat Term auch vergessen, richtig. Term, du hörst schon wieder nicht zu!« Die Arme vor ihrer Brust verschränkt fixierte Frau Dorsch ihn wie eine unbeachtete Marktschreierin.
Term setzte sich aufrecht hin und runzelte die Stirn. »Frau Dorsch, wer kam auf die Theorie?«
»Wie meinst du das … versuch nicht deine Unaufmerksamkeit durch eine Frage zu kaschieren.«
»Na, der Nachhaltigkeitskoeffizient, wer hat den erfunden? In den Geschichtsbüchern stand, dass es den früher noch nicht gab. Wenn ich nachsehe, wann die Medizin als Wissenschaft begonnen hat, werden die Ägypter mit ihren Rezepten auf Papyri und andere Kulturvölker als Beispiele genannt. Wer sagt denn, dass nur eine bestimmte Anzahl von Menschen auf der Erde leben darf? Wer sagt, welche mathematische Zahl dem ursprünglichen Umweltzustand entspricht und warum muss dieser eingehalten oder erreicht werden?«
»Ha, ich wusste es«, spielte sich Jason auf. Er nutzte die Sekunden, in denen Frau Dorsch über seine unerwarteten Nachfragen nachdenken musste. »Der Term ist einer von diesen Religiöso-Fundis, die einfach dauernd Kinder machen, weil ihr Gott es ihnen befohlen hat. Der Term ist ein Kandidat für »Ungewollt Schwanger – Teenager in Not« am Freitagabend im Ersten.« Die Klasse lachte und Term verdrehte nur die Augen. Ihn kümmerten seine Mitschüler herzlich wenig, deswegen trafen ihn die Beleidigungen nicht. Für ihn hatten seine Mitschüler alle keine Träume – sie waren langweilig. Und langweilige Menschen konnten einen nicht beleidigen.
»Jetzt reicht es mir, Jason. Hattest du in deiner Schullaufbahn einen männlichen Erzieher oder was ist bei dir schiefgelaufen? Du kannst dich heute Nachmittag bei Frau Leek melden! Offensichtlich glaubst du, dass dein vorlautes Gebaren und schlechter Humor das andere Geschlecht beeindrucken. Und von euch Mädels bin ich auch enttäuscht: Wenn ihr Jason dazu ermutigt, Term fertig zu machen, bestätigt ihr zwei ganz schlimme Rollenbilder: dass verbale Aggressivität bei Männern in Ordnung ist und bei Frauen gut ankommt. Habt ihr denn schon wieder alles vergessen? Frau Leek hat euch bestimmt beigebracht, dass euer Verhalten nur konstruiert ist. In eurem Alter hätte ich wirklich erwartet, dass ihr euer zufällig konstruiertes Geschlecht hinter euch lasst!«
»Term«, Frau Dorsch sah ihn mit anderen Augen an. Viel ernster. »Ich weiß, dass du kein »Religiöso-Fundi« bist, daher möchte ich darüber hinwegsehen, dass du die Grundsätze – die wirklichen Basics unserer Gesellschaft nicht verstanden hast. Hört mal Kinder, das ist eine gute Gelegenheit noch einmal den Stoff zu wiederholen.«
»Danke Term«, kam es von hinten. Der Stimme nach Sara oder Elfi.
»Sara, Kalena, Petra, ihr braucht gar nicht so zu murren. Wenn es noch Noten geben würde, hättet ihr bestimmt keine Einsen! Seid froh, dass ihr nicht in Frankreich lebt. Dort müsst ihr euch anstrengen, wenn ihr auf die Universität wollt.« Ihre Ermahnung wirkte so scharf wie ein duftendes Schaumbad, denn die Schülerinnen fühlten sich wohl in dem Wissen, dass Frau Dorsch selbst nicht an diesen Noten-Unsinn glaubte.
»Ist ja barbarisch, wie die Menschen früher gelebt haben, mit Noten und so«, meinte Kalena zu ihren Mitschülern, die ihr verächtlich lachend zustimmten. »Das muss eine schreckliche Gesellschaft früher gewesen sein – stellar unmenschlich!«
»Ich bin keine Geschichtslehrerin, die Verständnis für früher zeigen. Wie ich das sehe, gingen die Menschen der alten Gesellschaft brutal miteinander um. Kinder und Jugendliche wurden nach Leistung getrennt! Ich finde es unvorstellbar, dass so etwas in einem angeblich zivilisierten Land passieren konnte. Glücklicherweise sind diese dunklen Zeiten vorbei – das heißt aber nicht, dass ihr euch nicht anstrengen sollt, Mädels. Bitte lernt doch die Kapitel, dann könnt ihr viel besser mitmachen und andere Schüler können von euch etwas lernen.«
»Werden wir machen, Frau Dorsch«, kam es erneut so ehrlich wie bei dem Dank zuvor aus einer der hinteren Reihen.
Terms Hirn wollte sich einfach ausschalten. Jeder in der Klasse wusste, dass die drei Mädchen nichts lernten. Wer sie als Lernpartner bekam, lernte noch weniger als die drei Mädchen, wenn man mathematisch von Nullwissen noch mehr Wissen abziehen könnte. Wieso auch, sie hatten nichts zu befürchten. Der Schulabschluss war politisch gesichert. Term fragte sich selbst manchmal, warum er überhaupt etwas las und lernte. Es gab nur Gruppenaufgaben, keine Arbeit lag in seinen eigenen Händen, er hatte keine Möglichkeit, selbst ein Thema zu bearbeiten oder ein Problem zu lösen. Alles wurde durch eine Vielzahl von Stimmen und Meinungen solange debattiert, bis etwas herauskam, das weder falsch noch richtig war. Egal, ob er die Französische Revolution in der Hausaufgabe vorbereiten sollte, die Photosynthese simulieren oder über das Thema Integration eine Präsentation vorbereiten musste. Es war immer ein Erfolg der Gruppe, es spielte gar keine Rolle, ob er persönlich dabei mitwirkte.
»Also Terms Fragen sind ganz und gar nicht dumm … wenn auch sehr unerwartet.« Frau Dorsch ging zu ihrer Arbeitsstation und rief das Schulmodul zum Thema auf. Auf der Tafel erschien die Erde. Die Kontinente waren ja nach Bevölkerung unterschiedlich rot eingefärbt. Weitere Daten, wie Umweltverschmutzung und Waldfläche wurden kurz links und rechts der Grafik eingeblendet.
»Es gibt ganz viele Forscher und wissenschaftliche Artikel, die sich seit Jahrzehnten mit der Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit auseinandersetzen und die Formel immer wieder verfeinern. Als ich noch Studentin war, hatte unsere Uni-Bib einen ganzen Flügel voll mit Literatur zu dem Thema. Der Nachhaltigkeitskoeffizient ist so wichtig, dass dazu ganz viele Menschen publizieren und forschen.«
»Ja, aber wo kommt der Gedanke her? Wo liegt der Ursprung der Idee, es könne zu viele Menschen geben?«, bohrte Term nach.
»Ist der Gedanke nicht logisch? Als die Verschmutzung der Welt immer schlimmer wurde, der CO 2-Ausstoß uns alle drohte umzubringen und der Wasserspiegel anstieg, ist den Menschen klar geworden, dass sie nicht so weiterleben können. Also haben sie darüber nachgedacht, was zu ändern wäre. Die ganze schöne Natur drohte zu verschwinden. Die Angst vor der Überbevölkerung gab es, glaube ich, schon vor den großen Umweltkatastrophen. Der erste Denker war ein Malthusius oder so ähnlich. Der hat sich damit beschäftigt, dass gar nicht so viele Nahrungsmittel produziert werden konnten, wie Menschen auf die Welt kamen.«
»Aber es ist doch nur eine Angst. Die Welt ist nicht untergegangen, nicht ausgedörrt und auch nicht verhungert – uns geht es doch allen gut.« Term verstand die Angst nicht.
»Ja, aber nur, weil sich einige sehr kluge Menschen zusammengesetzt haben und angefangen haben zu forschen. Jetzt stell dich nicht so dumm, das ist neueste Geschichte. Die globale Umweltkrise kennst du doch aus der Grundschule und was wir tun müssen, damit die Erde im Gleichgewicht bleibt.«
»Frau Dorsch, Sie haben uns beigebracht, dass wir unsere Fragen an die Welt stellen sollen, ohne schon vorher ein Urteil gefällt zu haben.«
»Oh, ja«, jetzt strahlte seine Lehrerin. »Auch wenn ihr einzelne Fakten vergesst und nachschauen müsst, wenn ihr das mitnehmt, bin ich schon sehr glücklich.«
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