Was ist denn jetzt mit mir passiert? Ich sehe plötzlich alle Farben verzerrt. Alles erscheint viel dunkler und auch leicht verschwommen. Ein Grauschleier überzieht alles, was mir mein Sehnerv ins Gehirn sendet. Es gibt keine leuchtenden Farben mehr! Hat sich nun mein Gemütszustand auf meine Augen übertragen?
Noch etwas ist ganz eigenartig. Alle Leute, die ich im Gelände der Anstalt erblicke, kommen mir komischerweise so bekannt vor. Den kenn ich doch von irgendwo her. Ist das nicht…? Egal, wen ich auch sehe, jedes Gesicht erscheint mir bekannt. Und alle starren mich so an, alle denselben Blick. Dutzende von Augenpaaren haften sich an mich. Sie beäugen mich misstrauisch. Verdammt, werde ich beobachtet? Wurden Detektive auf mich angesetzt? Kopfgeldjäger? Lasst mich in Ruhe, was habe ich euch denn getan?
Ich stelle mir vor, wie sich mein Gehirn in einen matschig-fauligen Klumpen verwandelt. Die schwermütigen Gedankenschnecken ziehen sich zähflüssig, schleimig von einem Ende des Klumpens zum anderen. Daumendicke Blutegel saugen die letzten klaren Gedanken aus dem schlammigen Rest meines Denkorgans. Abends dusche ich mich, das Körpergefühl ist mir abhanden gekommen. Alles fühlt sich taub an. Ich zwicke mich fest in den Oberarm – es schmerzt nur ein wenig, nicht der erwartet normale, gewohnte Schmerz. Ich berühre meinen Pimmel – kein Gefühl… So etwas wie sexuelle Lust habe ich sowieso schon lange nicht mehr verspürt. Dann erblicke ich mich im Spiegel. Er ist vom warmen Dunst der Dusche beschlagen. Mit dem Handrücken wische ich über die Spiegelfläche. Ich erschrecke! Bin das da drinnen wirklich noch ich selbst? Meine Haut ganz fahl, Pickel auf der Stirn, ich komme mir um Jahre gealtert vor. Die Ringe und Falten unter meinen Augen könnte man schon eher als Furchen bezeichnen. Der körperliche und mentale Verfall nimmt unabdingbar seinen Lauf.
Und noch etwas Befremdendes, Unheimliches entdecke ich an mir: Meine Pupillen sind riesengroß! Ich schließe für einen Moment meine Augen und öffne sie wieder. Die Pupillen ziehen sich auch im grellen Licht kaum mehr zusammen. Bin ich voll auf Drogen – verwandle ich mich langsam in einen Zombie? Horror, ich durchlebe einen Horrorfilm – und ich bin Regisseur und Hauptdarsteller in einer Person. Wer ist gut, wer ist böse? Kann ich noch irgendjemanden trauen, hier auf dieser schrecklichen Welt?
Verdammt, wohin soll das nur führen? Ich fühle mich, als ob ich jeden Moment unter der immensen Last auf meinen Schultern zusammenbrechen werde. All meine Organe werden zusammengeschnürt, es tut so weh. Ja, ich habe Angst. Angst, es nicht mehr zu schaffen. Angst, alles zu verlieren. Ich liege wieder wach im Bett – ich lausche einem aufgewühlten Gespräch zwischen eingeschränktem Ratio, verzweifelt-verwirrter Intuition und verlorener Hoffnung – es ist kein Gespräch untereinander, sie sprechen mich direkt, beinhart, gnadenlos an:
Du läufst den Weg entlang, der Dein Leben ist, das was übrig geblieben ist aus der glorreiche Zeit…
… und Du hast Angst davor,
dass Du schon zu weit zurück liegst, zu spät kommst, zu weit gegangen bist, alles verpasst,
dass Du Dich beeilen musst, keine Verschnaufpausen mehr,
dass Du falsch abbiegst, kein Zurück mehr,
dass Du den nächsten Anstieg nicht schaffst, keine Kraft mehr,
dass Du die nächste Nacht nicht überstehst, keine Hoffnung mehr,
dass Du abstürzt, rechts oder links vom schmalen Grat,
dass Du verhungern wirst… oder verdursten… oder ertrinken…oder ersticken… oder verbrennen… oder erfrieren, dass Du auf niemanden mehr treffen wirst, der Dich noch lieben kann, so wie Du jetzt bist,
dass Du für immer allein hetzen musst,
dass Du keinen Wert mehr besitzt,
dass Du hier NIE wieder raus kommst…
…TODESANGST!
Seven-seven-eleven 7-7-11
Der nächste Tag. Heute ist Donnerstag, der 7. Juli 2011. Keine Wolken am Himmel – Sonnenschein pur – Tropenhitze. Gewitter im Kopf – Gedanken tief gefroren - totale Angespanntheit. Meine Glieder schmerzen. Ich irre umher. Bin mal in der Kantine, im Zimmer, dann wieder im Freigelände. Mittagessen – es schmeckt nach nichts – Geschmacksnerven auch eingefroren. Dann sitze ich im Park und versuche ein Kreuzworträtsel zu lösen. Ich kann meine eigene Schrift nicht mehr entziffern. Die vor gedruckten Worträtsel und meine Buchstaben vermischen sich. Mir scheint, als ob die Wörter des Rätsels auftauchen und wieder verschwinden – ich bin paranoid!!
Kartenspiel – UNO – wer gewinnt, wer spielt mit? Farben, Zahlen, mischen, abheben, 2ROTBLAU5-6ZURÜCKGELB-GESPERRT-VERLIERER-VERSAGER-LACHEN-WEINEN alles durcheinander… Stimmen, Gestank, Chaos. Da, ein ganzer Sack voller Tabletten…! All die teils leeren, angefangenen und wieder abgesetzten Medikamente, die ich in den letzten Monaten angehäuft habe. Schmerztabletten, Schlafmittel, Antidepressiva, … Ich hatte sie in der obersten Lade in meinem Kleiderschrank in einer Plastiktasche verstaut. Wie viele dieser kleinen weißen Pillen habe ich in den letzten Wochen meinem Körper und meinem Geiste zugemutet? Hundert? Zweihundert? Tausend? Ich erinnere mich, als ich die erste davon schluckte: Sind sie Fluch oder Segen? Gift oder Heilung?
… Heilung…! Sehnsucht…! Ruhe…! Atmen…! Druck ablassen…! Von Parasiten befreien…! Das Rad anhalten…! Ausbrechen…! Endlich frei sein…! … zu spät …!!!
Duschen – Wasser brennheiß - eiskalt. Alles nass. Wo sind meine Sachen, alles weg, alles verloren! Verzweiflung pur! Ich halte diesen extremen Druck nicht mehr aus! Ich implodiere, explodiere – breche zusammen, es zerreißt mich. Ich muss hier weg. RAUS… Wohin nur? Ich schlüpfe in meine Laufschuhe – RAUS, WEG, FLUCHT!!! – ICH SCHLEICHE am Stützpunkt vorbei, keiner hat mich gesehen – ICH GEHE schnell…SCHWEBE!!!??! Vorbei an Patienten, Besuchern, Krankenschwestern, Therapeuten, Pflegern, Ärzten. Bin ich unsichtbar? Warum bemerkt mich keiner? Weg aus der Irrenanstalt, raus aus diesem Gefängnis! Davon von den Kopfgeldjägern! Wohin nur?
Lärm, hupende Autos, hüllenlose Gestalten, alle grinsen mich hämisch an – ICH LAUFE – leere, enge Straßen, lähmend-schwüle Hitze…, da, die nette junge Krankenhauspraktikantin von der Station – sie sieht mich fragend an, will etwas sagen, geht dann aber weiter. Plötzlich find ich mich in einem Rohbau eines Stockhauses wieder – unverschlossene Türen, Stufen, Mauern, Werkzeug, Säcke. Türe zu – finster, feuchtkalte schwere Luft! Stille! Absolute, noch mehr Angst verbreitende Stille. ICH ERSTARRE - höre nur meinen rasenden Herzschlag. Er zertrümmert meinen Schädel. Orientierung völlig verschwunden. Taste mich durch den Brei aus schwerer, pechschwarzer Luft. Bin ich jetzt in meinem Tunnel gelandet? Dieser schwarze Tunnel aus der Maltherapie? Der Tunnel aus meiner Fantasie – ist er jetzt zur brutalen Realität geworden? Stolpere, ICH FALLE zu Boden, lieg am feuchtmatschigen Grund. Ertaste runde, metallene Stäbe. Ein Gefängnisgitter? Wer hält mich hier fest? ICH SPRINGE auf, schlage mir heftig den Kopf an, ein beinharter Gegenstand, wie ein Gongschlag vibriert er parallel mit meinem Kopf. In der Dunkelheit blitzt es vor meinen Augen auf. Und zugleich schrecke ich zusammen, als in der totalen Finsternis dieses große Etwas umkippt und ich plötzlich das laute, schrille Klirren von zersplitterndem Glas vernehme, das schneidend die Stille durchbricht. ICH TORKLE umher. Dominosteine fallen. Krach, von allen Seiten, vollste Lautstärke. Presse die Hände an die Ohren, schreie. Wieder Stille. Da, endlich ergreife ich die Türklinke. Schnell wieder raus aus dem kaputten, eingestürzten Labyrinth!! Wohin nur? Links, rechts, vorne, zurück? ICH RENNE weiter…kratzende Dornensträucher, dichtes Gestrüpp, starre Bäume, Dreck, hinauf – hinunter – ICH STÜRZE, Blut an meinem linken Ellbogen… Schweiß, mein Mund staubtrocken – ICH RASE, der dröhnende Lärm von hunderten Autos, ich stehe an, die Lärmschutzwand, dahinter die Autobahn! Autos dröhnen. Wohin nur? Alle Häuserblöcke schauen gleich aus?! Wo bin ich? Die Sonne sticht! Es dreht sich alles, wieder ein Labyrinth… ausweglos – ICH WANKE – kann mich nur schwer auf meinen schwachen Beinen halten, wohin nur? Feuer in der Lunge, ich keuche, keine Spucke, Mund ausgedörrt, absolut keine Spucke – mein Körper total verschwitzt und nass – wohin nur? Verdammt, ich spüre meinen Körper nicht mehr!! Alles dreht sich in mir und um mich herum, immer schneller. ICH STEHE, …Stillstand, nur im Kopf dreht sich alles im Höllentempo weiter. Verwirrt, verirrt, komplett alleine, verlassen… vorbei.
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