1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 „Ich muss jetzt zu meinem nächsten Termin. Aber ich will mit Ihnen nochmals sprechen.“ Die nette Therapeutin sitzt vor ihrem Computer und checkt ihren Terminkalender. Wir vereinbaren, dass ich schon morgen nochmals zu ihr kommen solle. Ich kritzle auf meinen Stundenplan den Namen, Zimmernummer und Uhrzeit und merke dabei, dass meine Schrift immer unleserlicher wird…
Als ich am nächsten Tag in das Malzimmer komme, sitzt sie schon seit einigen Minuten vor meinem Bild und betrachtet es. „Ich habe mir nun ihr Kunstwerk lange angeschaut – hmmm, naja, man könnte es auch anders interpretieren. Der große schwarze Fleck, dieser Berg, der so sehr belastet… versuchen wir es mal so zu betrachten: Herr Pammer, vielleicht ist es gar kein Berg..., es kann sein, dass Sie nicht über diesen unheimlich riesigen Brocken drüber müssen. Es kann sein, dass Sie auch nicht den ganzen langen, mühsamen Umweg um das schwarze Massiv gehen müssen. Vielleicht ist es ja eine Art Höhle oder ein Tunnel – und Sie brauchen nur durch diesen Tunnel gehen?“ Ich setze mich neben sie und blicke auf die Zeichnung. Was soll ich davon halten? Diese Farben auf dem Papier sind ein Ausdruck meiner Seele, meines Unterbewusstseins. „Wir können einen Versuch wagen. Wollen wir eine Reise machen? Sie und ich. Wir versuchen raus zu finden, wohin die Reise führt.“ Sie blickt mir ganz tief in die Augen nimmt meine Hände – ihr Blick ist ernst, aber zuversichtlich. „Wenn wir es probieren, Herr Pammer…, es ist anstrengend und wird vermutlich sehr emotional werden! Denken Sie, Sie sind dafür bereit und stark genug?“ Ich merke wie der Schweiß in meinen Händen ihre Handflächen benetzt, es ist mir unangenehm – ich spüre jedoch ihren festen Händedruck, ein Zeichen ihrer Unterstützung. Wieder atme ich schwer. Der Druck in meinem Brustkorb nimmt zu, ich spüre die Sorgenfalten auf meiner Stirn. Ein paar Augenblicke vergehen und ich nicke. „Ja, ich bin bereit.“ Sie legt die Zeichnung zur Seite, setzt sich mir gegenüber, nimmt meine Hände und schenkt mir ein kurzes Lächeln. „Keine Angst, ich habe ähnliche Reisen schon öfter unternommen. Wenn es zu heftig wird, sagen Sie einfach Stopp und wir werden es beenden. Sie brauchen nicht viel sagen, ich werde sie nur manchmal etwas fragen – okay?“
„Gut, wir werden nun gemeinsam die Augen schließen. Ich werde Sie während der Reise mit Du ansprechen. Versuche, dich auf deiner Blumenwiese wieder zu finden. Konzentriere dich nur darauf und atme tief in den Bauch hinein. Orientiere dich auch an meiner Atmung.“ Mein ganzer Körper scheint innerlich zu zittern. Beide schließen wir unsere Augen. Ich kann deutlich ihre Atemgeräusche hören und versuche, mich ihrem Rhythmus anzugleichen. Überraschend schnell bin ich wieder auf meiner Wiese. Dieses Mal kann ich die Farben noch intensiver wahrnehmen und ich kann förmlich den Duft der Blumen riechen. Ich sehe mich um – soweit ich blicken kann, eine einzige Wiese. Ich nicke als sie mich fragt, ob ich mich auf der Wiese befinde. „So, und nun gehe auf den Berg zu, keine Angst ich bin ganz nah bei dir!“ Da ist tatsächlich wieder dieser asphaltierte Weg, ich betrete ihn und in diesem Moment erblicke ich auch schon wieder diesen bedrohlichen Berg. Er wirkt noch um ein Stück mächtiger als gestern. Als ich mich ihm nähere sehe ich nur mehr schwarz, das Grün der Wiese und das Blau des Horizonts sind verschwunden.
„Sind wir angekommen?“ Wieder nickend gebe ich ihr Bescheid, das Dunkel erdrückt mich beinahe. „Gut, dann versuche mal, ob du ihn anfassen kannst. Oder ob du vielleicht in das Schwarz hineingleiten kannst.“ Zaghaft strecke ich im Gedanken beide Hände aus. Die scheinbar harte Wand des Felsens fühlt sich weich an, wie ein riesiger, schwarzer Samtvorhang. „Oh mein Gott, ich bin schon drinnen!“, schreie ich auf. Mein Herz pocht wie wild. Die Therapeutin erschrickt auch und beinahe gleiten meine nassen Hände aus den ihrigen. „Ganz ruhig. Bleib erstmal stehen und wenn du bereit bist, gib mir ein Zeichen!“ Ich habe einen Klotz im Hals, der Kopf schmerzt. Ich höre ein dumpfes Rauschen in meinem Kopf. Die Innenwände des Tunnels sind nass, glitschig und kalt. Nichts an dem ich mich anlehnen und festhalten könnte. Nachdem ich zweimal tief durchgeatmet habe, gehe ich weiter. Zunächst ist es stockdunkel, weiß nicht in welche Richtung ich mich bewegen soll. Unbehagen macht sich breit. Manchmal stoße ich gegen einen Stein oder Wurzeln, ich kann nichts erkennen, sehe und fühle meine Beine nicht. Immer wieder stehe ich an, taste mich im pechschwarzen Labyrinth voran. Weit weg erkenne ich, dass das Schwarz sich etwas ins Dunkelgraue aufhellt. Erneut nicke ich um der Therapeutin ein Signal zu geben und schreite im langsamen, holprigen Schritt in das etwas heller werdende Grau. Wo bin ich nur? In dem Moment muss ich an Berichte denken, als Personen von Nahtod-Erlebnissen erzählten. Immer wurde der lange Tunnel beschrieben und dann das Licht.
Ich gehe und gehe, immer wieder fragt mich die Therapeutin, ob eh alles in Ordnung sei. Ich bin aufgewühlt und zittere noch mehr. Aber ich schreite weiter der kleinen Lichtquelle zu. Ich kann nicht sagen, wie lange ich so dahinwandere, es ist, als wäre die Zeit eingefroren. Es ist, als ob mich Geister und Dämonen aus den finsteren Ecken beäugen. „Was kannst du erkennen, ist ein Ende des Tunnels erkennbar?“ fragt sie etwas beunruhigt. Durch das immer lauter werdende Rauschen in den Ohren kann ich sie nur mehr schwer hören. „Es wird immer heller, ich laufe…!“ Ich gleite förmlich durch die schwarzgraue Materie, immer schneller und schneller. Raum und Zeit gehen verloren. Es surrt und vibriert im ganzen Körper. Immer lauter. Es schüttelt mich und dreht mich in alle Richtungen gleichzeitig.
Und auf einem Schlag ist es still! Ganz still… und komplett hell - rundherum ist alles strahlend weiß, es blendet… Kein Tunnel, kein Berg ist mehr zu erkennen. Bin ich nun im Nichts, im Nirvana, im… Himmel?
„Siehst du irgendetwas? Eine Person? Vielleicht einen Freund, deine Eltern, deine Frau?“ Beinahe hätte ich vergessen, dass die Therapeutin noch da ist. Ihre Stimme ist nun wieder klar. Ich blicke mich um, doch da scheint absolut nichts zu sein. In dieser Unendlichkeit ist alles schwerelos, als wäre ich nicht mehr in meinem Körper! Es gibt nichts mehr, dass greifbar wäre. Ich fühle mich verlassen und sehr einsam. Meine Angst ist in diesem Moment verschwunden – doch Traurigkeit breitet sich aus. Habe ich alles verloren? Totale, tiefe Trauer… Ich hocke am nicht vorhandenen Boden der Unendlichkeit. Allein, vergessen, verloren... ewig lange, ohne Zeit, ohne Raum, ohne Grenzen.
Doch da – was war das? Hinter mir huscht ein Schatten vorbei… Ich möchte mich umdrehen, kann mich nicht bewegen. Ich spüre, dass hinter mir, über meiner linken Schulter ein starkes Kraftfeld ausstrahlt. Eine überaus positive Energie. Wer oder was ist das? Und nun kann ich sie erkennen: Meine über alles geliebten Kinder Celina und Fabienne, sie sind nah bei mir!!! Sie lächeln und scheinen glücklich zu sein. Ich schluchze und kriege Gänsehaut am ganzen Leib. Auch etwas weiter entfernt merke ich nun, dass sich einige Personen befinden. Ich kann nicht sagen, wer und wie viele Leute, aber sie scheinen mir äußerst vertraut, geben mir Kraft und einen Funken Zuversicht...
In diesem Moment werde ich geschüttelt. Die Therapeutin holt mich zurück in das Zimmer. „Alles okay? Ich dachte Sie werden gleich ohnmächtig!“ Mir ist ganz schummrig. Was ist da gerade mit mir passiert? War das ein Blick in die Zukunft? Wie soll ich das alles deuten? Wohin geht nun mein weiterer Weg? Oder war alles nur ein harmloses, bedeutungsloses Hirngespinst, ein Traum? „Kommen Sie, setzen wir uns ein wenig raus auf den Balkon an die frische Luft. Hier, trinken Sie ein Glas Wasser.“ Auch die Therapeutin scheint nun von der Reise etwas mitgenommen zu sein. Wir setzen uns auf Sitzsäcken auf dem Balkon, blicken über die Stadt und reden beide eine Zeit lang nichts.
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