‚Gleich werden sie weggebeamt‘, dachte Anna und glaubte für den Moment tatsächlich an die Möglichkeit ihres Verschwindens, als sie den Kartonstapel neben der Hintertür abstellte und zurück zum Auto ging, um den zweiten zu holen. Doch als sie wieder um die Ecke bog, saßen sie noch immer dort, allerdings hatte sich ein Teil ihrer Leuchtkraft durch die minimale Wanderung des Sonnengottes verbraucht und es war nurmehr ein orangener Schimmer geblieben. Der Moment für den Abflug schien verpasst. Die lebende Mumie hatte den ersten Kartonstapel schon ins Haus gebracht und erwartete sie an der Tür.
„Wie im Sanatorium“, sagte er und lachte, doch Anna verstand den Witz nicht und nickte nur verhalten.
„Im ‚Zauberberg‘“, erläuterte er, „da müssen alle Kranken immer stundenlang in Decken gehüllt auf dem Balkon ruhen.“ Anna lächelte abwartend. Sie hatte den Zauberberg nicht gelesen, wusste ihn aber zumindest ungefähr in der Literaturgeschichte einzuordnen, und hoffte, sich nicht gänzlich zu blamieren, wenn er weiter hochgebildete Konversation betreiben wollte.
„Ich habe das Buch auch nicht gelesen“, gab er jetzt jedoch freimütig zu, „aber Henk, der ist Deutschlehrer, und wir haben uns gerade darüber unterhalten.“
Er deutete auf eine der Mumien im Wintergarten.
„Und warum sind Sie hier und nicht im Sanatorium?“, fragte sie etwas neugierig, doch bevor er etwas erwidern konnte, musste er sich mit einem Hustenanfall abwenden.
„Na ja“, antwortete er dann verschmitzt, „Hans war sieben Jahre auf dem Zauberberg, und ich hoffe, dass ich das hier in zwei Wochen hinter mir habe.“
Vermutlich lächelte er, doch das konnte Anna nur daran erkennen, dass sich sein Mundschutz ein wenig aufwärts bewegte. Sie erwiderte das Lächeln, doch in ihren Augen mussten Zweifel ablesbar gewesen sein, denn er setzte noch einmal zu einer Erklärung an:
„Einige von uns haben Familie, die sie nicht anstecken wollen, andere sind zu Hause ganz allein, was auch nicht lustig ist, wenn man krank ist.“
Anna nickte, es war in etwa das, was Marit vermutet hatte.
„Ich bekomme heute 108,00€“, sagte sie und schaute noch einmal in den Wintergarten, der inzwischen nur noch in der äußersten Ecke von der Sonne beschienen wurde und in dem die eingehüllten Gestalten nun trostlos und grau aussahen, während ihr Gegenüber versuchte, zwischen den Schichten der Bettdecke hindurch das Geld aus der Hosentasche zu ziehen.
„Und, heute keine Party?“, fragte sie, um freundlich zu sein. Er schüttelte den Kopf und fluchte leise, als ihm einige Geldscheine auf den Boden fielen. Dann hielt er ihr 120€ entgegen und zuckte die Schultern.
„Nee, Martin und Tobias haben Kopfschmerzen. Musik geht heute nicht. Stimmt so.“
Anna nahm das Geld und verstaute es im Portemonnaie.
„Gute Besserung dann“, wünschte sie ihm, doch bevor sie um die Hausecke herum verschwinden konnte, hielt er sie auch diesmal mit einer Frage zurück.
„Liefern Sie eigentlich immer aus?“
Anna zuckte mit den Schultern.
„Wir sind ein kleiner Betrieb“, antwortete sie wahrheitsgemäß. Die Antwort schien ihm zu genügen, denn er nickte, und Anna glaubte noch einmal die Anzeichen eines Lächelns erkennen zu können, bevor sie sich endgültig abwandte und ging. Ihr Vater würde bereits mit fertigen Bestellungen auf sie warten.
„Der nächste Tag war wieder ein Sonntag und die Raupe fraß sich durch ein grünes Blatt…“, deklamierte Marit mit gelangweilter Stimme, während sie sich tatsächlich ein kleines Fitzelchen von einem Salatblatt in den Mund schob, das ihr zuvor vom Brötchen gefallen war. Sie hatte wieder ihren Platz auf der Fensterbank eingenommen und starrte auf die im herrlichsten Frühlingssonnenschein daliegende Straße hinunter.
„Es ging ihr nun viel besser, sie war auch nicht mehr klein...“
„Marit lass das, ich kenne das Buch genauso auswendig wie du“, wurde sie von Anna unterbrochen, die auf dem Sofa lag und las, doch Marit wollte sich unterhalten und außer Anna war dazu niemand in der Nähe.
„Es ist zum Auswachsen, so langweilig“, klagte sie, „ich glaube, ich gehe gleich in den Park.“
„Ich langweile mich nicht“, betonte Anna kurz angebunden.
„Schon klar“, meckerte Marit, „das sehe ich. Dann muss ich wohl alleine gehen.“
„Ist sowieso besser“, antwortete Anna beiläufig, „sonst treffen wir nachher jemanden und gelten dann gleich als Zusammenrottung.“
Marit schaute wieder nach unten auf die Straße und spürte die Unruhe in sich aufsteigen, die sie schon den ganzen Morgen umtrieb, ohne dass ihr ein Mittel einfiel, wie sie sie besänftigen konnte. Sie seufzte.
„Wir sind keine Rotte“, sagte sie träumerisch, „Wir sind zarte, geflügelte Wesen, die sich schwerelos durch die Straßen bewegen. Ich bin eine grüne Elfe und du eine blaue. Ich weiß nicht, was du kannst, aber ich kann mit Pflanzen sprechen, sie klagen mir ihr Leid und ich heile mit Feenstaub ihre Wunden.“
„Gerade hast du noch eines ihrer Blätter angenagt, um dich satt zu fressen“, entgegnete Anna nüchtern, doch Marit liebte es, Traumbilder zu erfinden und ließ den Einwand nicht gelten.
„Das war in einem früheren Leben, vor der Verwandlung. Die Blumen haben mich ernährt, mich groß und stark gemacht, und jetzt gebe ich es den Pflanzen zurück, ich bedanke mich für ihre Güte. Sieh dir die Sonne an, die will uns endlich hinauslocken in die Natur, damit wir Gutes tun können!“
Mit einem lockenden Kopfnicken in Richtung Sonnenschein, der sich in den gegenüberliegenden Fenstern spiegelte, versuchte Marit ihre Freundin vom Sofa zu locken, doch Anna reagierte nicht.
„Hast du dir schon einmal Gedanken über das Leben in einem Kokon gemacht?“, unternahm Marit einen neuen Versuch und Anna seufzte.
„Nein, eigentlich nicht“, antwortete sie dann, während vor ihrem inneren Auge das Bild der weißvermummten Corona-Patienten aufstieg, das sie sogleich wieder zu verscheuchen versuchte.
„Aber ich denke, da ist man allein und hat seine Ruhe. Erstrebenswert.“
„Hör‘ auf so genervt zu tun, ich meine das ernst“, betonte Marit und brachte Anna dazu, ihr Buch beiseite zu legen.
„Ich glaube nämlich, dass wir uns gerade in einem Kokon befinden, eigentlich machen wir jetzt alle eine Art Metamorphose durch. Durch die Isolation, durch die Einsamkeit verwandeln wir uns. Jeder hat nur noch sich selbst zum Betrachten, kein ärgerliches Gegenüber lenkt von der eigenen Problematik ab, jeder ist auf sich selbst zurückgeworfen.“
Marit schloss für einen kurzen Moment die Augen, und spürte der Leichtigkeit ihres Gedankenflusses nach. Sie war davon überzeugt, die menschenleere Straße habe dieses Gefühl der Schwerelosigkeit in ihr geschaffen, das sie beflügelte und so beharrlich nach draußen zog. Ihre Seele verlangte danach, es auszuprobieren und einen Flug zu wagen.
„Ich jedenfalls fühle mich verwandelt, ich habe das Gefühl, als wären die ganzen Sorgen, die mich vorgestern noch völlig erledigt haben, von mir abgefallen, nein, als hätten sie sich einfach in Luft aufgelöst, weil viele andere Dinge auf einmal so viel wichtiger sind.“
Marit hatte mit fast pathetischer Stimme gesprochen, so eindringlich, dass Anna etwas alarmiert war. Der Glaube an die märchenhaften Seiten des Lebens war in der Regel immer ihr Terrain gewesen. Marit war zwar sehr gut darin, Traumwelten zu erschaffen, hatte aber noch nie Anzeichen erkennen lassen, selber darin wohnen zu wollen.
„Und welche Dinge sollten das sein?“, fragte Anna sie, doch Marit zuckte die Achseln.
„Ich weiß es nicht, meine Seele ist ein jungfräulich weißes Blatt Papier. Aber irgendetwas liegt in der Luft, ich spüre es.“
Читать дальше