„Aha“, entgegnete Anna stirnrunzelnd, „Hast du sie mitgebracht, damit ich sie in den Salat tue?“
„Natürlich nicht!“, erwiderte Marit kurzangebunden und verließ die Küche.
Inzwischen schien die Nachmittagssonne ins Wohnzimmerfenster und sie setzte sich an ihren gewohnten Platz ins warme Licht. Träge schloss sie die Augen und reagierte kaum, als Anna sie noch einmal ansprach, unfähig ihrer lähmenden Enttäuschung etwas anderes entgegenzusetzen als Selbstvorwürfe. Warum hatte sie ihn nicht zumindest nach seinem Namen gefragt? Inzwischen bereitete es ihr keinerlei Probleme mehr, bewegungslos in der Ecke zu sitzen, so wenig wie die Einsamkeit, als Anna hinunter ins Restaurant ging. Chiara hatte an diesem Sonntag Spätdienst und würde vor 23.00 Uhr ohnehin nicht zu Hause sein.
*
Zu ihrer Überraschung musste Anna heute nur eine Pizza in die Konrad-Adenauer-Allee bringen, und während sie sich darüber noch wunderte, stellte sie fest, dass sie sich andererseits keineswegs mehr über die Tatsache wunderte, überhaupt wieder dorthin fahren zu müssen. Die Ischgl-Typen schienen treue Kunden zu sein, sie hatte schon fest mit dieser Tour gerechnet. Während sie den Lieferwagen auf dem Weg zu einigen anderen Kunden, die sie zuerst beliefern sollte, durch die leeren Straßen der Stadt lenkte, wanderten ihre Gedanken bereits zu der Wohngemeinschaft aus Infizierten und sie fragte sich, was sie heute dort erwarten würde. Eine laute Party wahrscheinlich nicht, aber vielleicht ein paar mumifizierte Leichen im Garten? Vielleicht waren inzwischen alle bis auf einen im Krankenhaus und nur der konnte noch etwas bestellen?
Als sie mit dem einzelnen Karton in der sorgfältig durch Gummi geschützten Hand den Klingelknopf drückte, war aus dem Haus kein Geräusch zu vernehmen, und sie erwartete schon fast, wieder in den Garten gerufen zu werden, als sich die Haustür öffnete und ihr der Blondgelockte mit dem Mundschutz gegenüberstand. Er nahm den Karton entgegen und stellte ihn neben der Box mit Atemschutzmasken im Flur ab.
„Entschuldigen Sie bitte den Umstand“, murmelte er, „die Anderen wollten heute lieber Chinesisch essen.“
Zu Annas Verwunderung war seine Stirn rot angelaufen, als er sich ihr wieder zuwandte, vom Rest seines Gesichtes konnte sie nichts erkennen, und er kratzte sich verlegen am Kopf, bevor er die Peinlichkeit erläuterte, die ihn ganz offensichtlich quälte.
„Ich wollte Sie aber wiedersehen.“
Ein heftiger Hustenanfall bewahrte ihn davor, ihr in die Augen schauen zu müssen, doch jetzt registrierte Anna, was ihr bisher nicht aufgefallen war. Er trug Jeans und Pullover, nichts Außergewöhnliches, aber doch anständige Kleidung, die er die letzten Tage nicht getragen hatte.
„Oh, das ist nett von Ihnen“, erwiderte Anna, unschlüssig, wie sie mit diesem offensichtlichen Flirtversuch umgehen sollte.
„Ich heiße übrigens Björn, Björn Helmers“, sagte er und klopfte sich zweimal mit der rechten Hand aufs Herz, eine Geste, die das Händeschütteln ersetzen sollte und die Anna in diesem Augenblick so rührend passend vorkam, als sei sie extra für ihn erfunden worden. Sie erwiderte die Geste und lächelte ihn an.
„Ich heiße Anna Ferucci. Schön, Sie kennenzulernen.“
Seine Stirn hatte die Farbe wieder verloren und schien sogar besonders bleich zu werden, als er sie lange anschaute, dann musste er wieder husten.
„Legen Sie sich ins Bett“, riet Anna mit fürsorglicher Stimme und Björn nickte, unfähig zu sprechen und krampfhaft bemüht, den Hustenreiz zu unterdrücken.
„Die geht heute aufs Haus“, sagte sie zum Abschied und deutete durch die Haustür in Richtung Pizzakarton. Bevor sie den Motor startete, schaute sie noch einmal in seine Richtung und hob die Hand zum Gruß. Doch dann senkte sie sie und tippte sich zweimal aufs Herz.
Die Arbeit im Restaurant brachte das Privileg mit sich, morgens ausschlafen zu können, was Anna schon immer sehr entgegengekommen war. Als sie am nächsten Morgen die Augen öffnete, war Marit schon aus dem Haus gegangen, die ins Schloss fallende Tür hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Durch den Spalt zwischen den zugezogenen Vorhängen fiel ein zarter Lichtstrahl auf die gelbe Wand neben ihrem Bett und brachte sie zum Leuchten. Der Himmel war blau wie am Vortag. Sie langte mit der rechten Hand nach der Gardine, die sich am Kopfende ihres Bettes befand, um sie ein Stückchen weiter aufzuziehen, dann zog sie sie schnell wieder unter ihre Bettdecke. Die Luft im Raum war eiskalt. Sie legte sie zurück auf ihre linke Brust, wo sie auch vorher geruht hatte und klopfte sich dabei zweimal kurz aufs Herz, fast reflexhaft, und musste lächeln.
‚Björn Helmers‘, dachte sie.
Er hatte sie wiedersehen wollen. Am ersten Abend hatte er sie schon eingeladen, ins Haus zu kommen. Undenkbar natürlich, aber er schien es doch ernst zu meinen. Er war krank, aber er würde schließlich bald wieder gesund sein, dann konnte man sich treffen und richtig kennenlernen. Anna hatte sich noch nie mit einem Mann getroffen, den sie nicht vorher schon einigermaßen gut gekannt hätte. Zumindest gut genug, dass sie sicher sein konnte, dass sich ein Abend nicht zu einem Desaster entwickeln würde. Zu ihrer Verwunderung stellte Anna fest, dass sein Wunsch, sie wiedersehen zu wollen, dazu geführt hatte, dass sie seit dem vergangenen Abend beständig an ihn dachte. Das Bewusstsein, dass er an sie dachte, verschaffte ihm in Annas Gedanken einen so unermesslichen Raum, dass sie gar nicht anders konnte, als sich aufs Herz zu tippen, zweimal schnell hintereinander, immer wieder, und ansonsten im Bett zu bleiben, wo sie mit ihren Gedanken ungestört war.
‚Kann es sein, dass ich mich in nur fünf Minuten in ihn verliebt habe? Oder bin ich nur sein Spiegel, und fühle mich in Wirklichkeit nur geschmeichelt?‘, fragte sie sich, konnte sich aber nicht sofort eine Antwort darauf geben.
Doch nach einer halben Stunde, die sie mit wohligen Träumereien verbracht hatte, fiel ihr plötzlich Francesco wieder ein. Bis vor einem Jahr hatte er im Restaurant gearbeitet, und irgendwann angefangen, ihr dauernd Liebesschwüre ins Ohr zu flüstern und sie zu Stelldicheins gebeten. Sie hatte immer wieder abgelehnt, zunehmend angewidert durch seine Aufdringlichkeit, bis er dann glücklicherweise gekündigt hatte und zurück nach Italien gegangen war. Allein das Wissen um das Interesse eines Mannes reichte also keineswegs aus, sie auf rosarote Wolken zu heben, stellte Anna erleichtert fest. Glücklich rollte sie sich in ihrer Bettdecke zusammen. Sie konnte das Wiedersehen mit Björn Helmers kaum erwarten, wenn es auch nur wenige Minuten dauern würde.
*
Marit hatte sich am Morgen den Lieferwagen ausgeliehen, weil sie nach der Arbeit Leinwände zum Malen kaufen wollte. Glücklicherweise hatte das Kaufhaus einen Lebensmittelsupermarkt und durfte öffnen, sonst hätte sie sie wohl mit horrenden Versandkosten im Internet bestellen müssen. Nachdem sie sich zu Hause zuerst einen Kaffee gemacht hatte, riss sie die Folie von der ersten Leinwand und platzierte sie auf der Staffelei, die im Wohnzimmer in der Ecke stand. Sie hatte in ihrer Mittagspause eine Skizze angefertigt, die sie großformatig in Acryl umsetzen wollte: Eine Straße, eine Häuserzeile, ein Regenfallrohr, alles grau in grau, und darin, mittig im Bild, in dem Winkel zwischen Bürgersteig, Hausmauer und Regenrohr, ein Büschel leuchtend gelbes Scharbockskraut.
Marits Enttäuschung nach ihrem gestrigen Erlebnis war groß, doch sie mochte sich noch nicht geschlagen geben. Die Lähmung vom Vorabend war verschwunden, stattdessen befand sie sich in einem Zustand hilflosen Abwartens, fest davon überzeugt, dass noch etwas geschehen würde, aber nicht in der Lage, selber etwas herbeizuführen. Diese Zeit der ärgerlichen Ungewissheit musste mit Aktivität gefüllt werden, und zu malen war für Marit schon immer das beste Ventil gewesen.
Читать дальше