Sie skizzierte ihr Motiv in groben Zügen mit dem Bleistift auf die Leinwand, bevor sie die Kiste mit den Farbtuben aus ihrem Zimmer holte und einen Malerfilz unter der Staffelei ausbreitete, um den Fußboden zu schützen. Sie arbeitete hochkonzentriert und mit starken Pinselstrichen, als Anna, die mit ihrem Buch in einer Ecke des Sofas saß, sie mit einer Frage aus ihrer Versenkung riss.
„Glaubst du, es ist möglich, sich in jemanden zu verlieben, nur weil derjenige gesagt hat, dass er einen mag?“
Marit glaubte im ersten Moment nicht richtig gehört zu haben, so durchschaut fühlte sie sich. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus, so dass sie keine Antwort geben konnte. Anna dachte, ihre Freundin habe sie nicht richtig verstanden und versuchte eine andere Formulierung.
„Ich meine, dass man jemandem hinterherläuft, nur weil der Interesse bekundet hat?“
Anna wollte gerne mit Marit ihr Problem klären. Sie war sich einfach nicht sicher, warum ihr der gleiche Mann, der sie am Vortag noch kaum interessiert hatte, auf einmal ein solches Herzklopfen verursachte, warum sie ständig seine wilden Locken vor Augen hatte und den Klang seiner zellstoffgedämpften Stimme im Ohr, doch Marit glaubte, ihre Freundin könne auf einmal Gedanken lesen, oder hätte von irgendjemandem von ihrer gestrigen Wanderung in die Kirchstraße erfahren. Schließlich war sie eine durchaus auffällige Erscheinung, und der grimmige Herr hinter der Gardine war vielleicht einer der Ferucci-Stammkunden.
„Wie kommst du darauf?“, fragte sie vorsichtig, doch Anna schien gar nicht sie, sondern den Sonnenschein vor dem Fenster im Blick zu haben und erwiderte ausweichend:
„Ach, nur so. Ich fürchte, es hat etwas Demütiges. Der will mich, also nehme ich ihn, verstehst du.“
Anna hatte das Wort „demütig“ so inbrünstig ausgesprochen, als schwelge sie in Wirklichkeit in einer wie auch immer gearteten Demut und unterwerfe sich in Gedanken bereits dem Mann, der sie dazu aufforderte.
Marit, die noch immer glaubte, Anna spreche von ihr, reagierte darauf heftiger als sie gewollt hatte.
„Das ist doch Quatsch! So eine Demut, so ein Sichfügen in die Gegebenheiten würde sich doch anfühlen wie ein Begräbnis! Das kann man doch wohl deutlich von Verliebtsein unterscheiden.“
Marit hielt einen Moment inne und spürte ihren eigenen Gefühlen nach.
„Verliebtsein ist doch leicht. Nein, das ist nicht das richtige Wort, Verliebtsein ist nicht leicht, es ist eine starke, mächtige Unruhe, die alle Sinne durcheinander wirbelt und trotzdem Flügel verleiht. Man fliegt, obwohl innendrin alles taumelt und eigentlich abstürzen müsste, wenn es mit rechten Dingen zuginge.“
Gedankenverloren hatte sie sich in einen der Sessel fallen lassen und setzte zu einer weiteren Erklärung an, noch immer davon überzeugt, sich vor Anna dafür rechtfertigen zu müssen, einem Mann hinterhergelaufen zu sein; ein Umstand den sie Anna gar nicht hätte erklären müssen, warum sollte man denn nicht an einem Sonntag Vormittag zufällig dort spazieren gehen, wo man schon einmal eine interessante Begegnung hatte, das war doch eigentlich selbstverständlich. Weniger verständlich wäre es für Anna sicher gewesen, dass Marit ihr nichts von ihrem Ausflug erzählt hatte. Hatte sie selbst ihr nicht seit ihren frühesten Kindheitstagen von jeder Schwärmerei berichtet? Über diese Kleinigkeit an freundschaftlicher Untreue ging Marit gedanklich hinweg. In Wirklichkeit hatte ihr eigenes emanzipiertes Ego noch immer ein wenig daran zu knabbern, dass sie in der Kirchstraße gewesen war.
„Wenn man weiß, dass man gemocht wird, ist man doch viel freier in seiner Entscheidung, ja oder nein zu sagen.“
Anna nickte eifrig und bestätigte:
„Ja, da hast du recht, und ich kann ja immer noch gehen, wenn er mir dann doch nicht gefällt.“
Erstaunt schaute Marit ihre Freundin an.
„Sag mal, von wem redest du da eigentlich?“, fragte sie dann, froh nicht weiter auf ihren eigenen Fall eingegangen zu sein. Anna wurde rot und zögerte einen Moment bevor sie antwortete.
„Björn Helmers, einer von den Ischgl-Typen“, gestand sie dann. Marit schaute sie ungläubig an.
„Du hast was mit dem Corona-Typen? Spinnst du? Letzte Woche hast du mir noch erzählt, wie wichtig die Isolation ist.“
Anna schüttelte den Kopf.
„Ich hab nichts mit ihm, das geht doch gar nicht. Er hat mir nur gesagt, dass er mich gern wiedersehen wollte und deswegen schon wieder Pizza bestellt hat. Und alles auf Abstand und mit Mundschutz“, erklärte sie und fügte nach einer kurzen Pause mit einem Lächeln hinzu: „Trotzdem bin ich verliebt. Davon rede ich doch die ganze Zeit!“
Marit musste lachen.
„Stimmt. Ich hoffe, ich konnte dir weiterhelfen.“
Anna nickte und Marit stelle sich wieder an ihre Staffelei.
*
Am Abend lag wieder eine lange Bestellliste aus der Konrad-Adenauer-Allee auf dem Tresen ihres Vaters und Anna hüpfte das Herz vor lauter Vorfreude, als sie die Kartons ins Auto stapelte. Doch außer ihrer Vorfreude hatte sich an ihrer abendlichen Routine kaum etwas geändert. Björn öffnete nach dem Klingeln sofort die Tür, als habe er dahinter bereits auf sie gewartet, ordentlich angezogen und mit Mundschutz vor dem Gesicht. Sie begrüßten sich durch den Doppelschlag aufs Herz und Anna holte die Kartons aus dem Auto. Nachdem er bezahlt hatte, blieb sie erwartungsvoll noch einen Moment stehen, doch ihm schien an diesem Tag nichts einfallen zu wollen, womit er sie hätte aufhalten können. Oder überhaupt müssen. Alles geschah mit einem neuen Einverständnis ihrerseits, einer Bereitschaft, ihm noch einige Augenblicke schenken zu wollen, die jede Form des Werbens überflüssig machte.
„Heute wollen alle wieder Pizza“, bemerkte sie dann etwas verlegen, „Schön.“
Björn nickte und unterdrückte einen Hustenanfall. Anna wartete ab.
„Der Chinese hat heute Ruhetag“, sagte er dann, anscheinend ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sie den Satz als Abwertung ihres eigenen Essens auffassen könnte. Nach einer Pause fügte er jedoch hinzu:
„Aber ich hätte ja sowieso Pizza bestellt.“
Anna fühlte kurz ihr Herz hüpfen, doch die unbeschwerte Leichtigkeit, auf die sie gehofft hatte, stellte sich trotzdem nicht ein.
„Ein Ruhetag, unglaublich, welches Restaurant kann sich das denn zur Zeit leisten“, sagte sie dann und lächelte ihm noch einmal zu, bevor sie sich auf den Weg machte.
„Bis morgen!“, rief er ihr hinterher, nachdem er den Mundschutz vom Gesicht gezogen hatte, und Anna versuchte sich im Rückwärtsgehen seine Gesichtszüge einzuprägen, die sie immer nur verschwommen von ihrer ersten Begegnung vor Augen hatte. Doch wieder war es nur ein flüchtiges Bild, das sie für sich bewahren konnte, denn schon eine Sekunde später wandte er sich ab, weil ein Hustenanfall ihn schüttelte, und ihr Bemühen blieb fast ganz vergebens.
*
Obwohl sich alles fast genauso zugetragen hatte wie am Vortag, war Anna enttäuscht und froh als ihr Vater ihr bei ihrer Rückkehr verkündete, dass sie nicht noch eine Tour zu fahren habe. Sie nahm sich stattdessen eine Flasche Rotwein aus dem Restaurant mit in die Wohnung und setzte sich zu Marit ins Wohnzimmer, die ihr Blumenstillleben inzwischen beendet hatte und in kritischer Betrachtung auf dem Sofa saß.
„Bist du zufrieden?“, fragte Anna interessiert, doch anstelle einer Antwort rümpfte Marit nur leicht die Nase. Anna konnte nicht erkennen, was ihr missfiel, aber das war ihr bei den Werken ihrer Freundin schon häufiger so gegangen. Das Grau der Straße war eintönig, die Melancholie, die Marit damit wohl hatte ausdrücken wollen, fast schmerzhaft nachzuempfinden, und die gelben Blumensterne strahlten daraus hervor wie ein Versprechen auf Neuanfang.
Marits Art zu malen war weder besonders detailversessen noch naturgetreu, Stimmungen erzeugte sie meist durch Farbe, und erst in zweiter Linie durch Form. Auf diesem Werk fand Anna die Farben wohlgelungen und lobte das Ergebnis.
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