Glücklicherweise war sie um die nächste Straßenecke gebogen, bevor er das Ende der Kirchstraße, die nur etwa Hundert Meter lang war, erreicht hatte. Dort setzte er sich auf den Pfosten eines Gartenzauns, noch immer mit Schmerzen, aber so beseelt, so leicht, wie er sich noch nie gefühlt hatte.
Er saß so lange dort, bis er sah, dass auf der gegenüberliegenden Straßenseite vorsichtig ein Vorhang um wenige Zentimeter zur Seite geschoben wurde, und ihm bewusst wurde, wie seltsam seine Anwesenheit in der intimen Enge der Straße wirken musste, erst recht angesichts des beständigen Nieselregens, der noch immer nicht aufgehört hatte und den Spicy inzwischen bis auf die Haut spürte. Er lächelte freundlich zu der Gardine hinüber, dann machte er sich mit einem tiefen Seufzer auf den Heimweg.
*
Anna war damit beschäftigt, ihrem Vater in der Küche des Restaurants beim Gemüseschneiden zu helfen, als Marit endlich mit ihren Einkäufen vom Wochenmarkt zurück in die Wohnung kam. Vollkommen in Gedanken versunken, machte sie sich daran, die Vorräte in den Schränken zu verstauen, und warf zwischendurch einen Blick auf die Leere der Straße vor dem Fenster, doch die Ödnis schaffte es trotz des einheitlich grauen Himmels nicht bis in ihr Bewusstsein. Sie blieb mit einem Bund Möhren in der Hand am Fenster stehen und lehnte die Stirn gegen die Scheibe. Ihr Herz klopfte noch immer spürbar, hatte allerdings den wilden Schlag panischer Angst, zu der sich ihre Unruhe ausgewachsen hatte, als der schwere Stiefelschritt in ihrem Rücken nicht verschwand, soweit verlangsamt, dass er nicht mehr in der Kehle trommelte, sondern nur noch dumpf in der Magengrube zu spüren war. Dem Adrenalinstoß war Erschöpfung gefolgt, die sie jetzt erst richtig zu spüren begann.
Eigentlich hätte sie schon allein deshalb wütend auf ihn sein müssen, weil die Angst in ihr das Gefühl hinterlassen hatte, einmal komplett durch den Fleischwolf gedreht worden zu sein. Doch tatsächlich drang kein wie auch immer geartetes Gefühl des Widerwillens in ihre Seele, stattdessen machte sich dort ein sanftes Wohlbefinden bemerkbar. Wer konnte dieser Tage schon mit Überzeugung von sich behaupten, er habe interessante Begegnungen gehabt? Vielleicht hätte sie doch mit ihm gehen sollen? Statt jetzt hier allein in der Küche zu sitzen?
‚Verpasste Chance‘, dachte sie ein wenig wehmütig.
Sie wandte sich vom Fenster ab und ließ sich auf einen der Küchenstühle sinken. Vor ihrem inneren Auge erschien das Bild der Kirchstraße im Regen, in der er verschwunden war. In welches Haus war er gegangen? Ihre Erinnerung lieferte kein passendes Bild dazu. Sie versuchte es so lange, bis sie davon überzeugt war, dass sie sich unaufmerksam abgewandt hatte, und es somit nur verdient war, dass sie seine Spur verloren hatte und sich jetzt ärgerte. Das Bild, das ihre Erinnerung sicher bewahrte, war das eines lachenden Mannes mit zum Gruß erhobener Hand auf einer verlassenen Straße.
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„Alles in Ordnung?“, fragte Anna leicht besorgt, als sie Marit so in sich gekehrt in der Küche fand, das Bund Möhren noch immer im Schoß haltend. Doch Marit nickte.
„Ich hatte eine seltsame Begegnung heute Morgen“, setzte sie an und erzählte von der Verfolgung durch den Unbekannten.
„Oh Scheiße, das ist ja peinlich!“, kommentierte Anna die Geschichte an dem Punkt, als Marit von ihrer fälschlicherweise ausgeführten Schlagstockattacke berichtete.
„Hoffentlich hat er dich nicht total zur Schnecke gemacht!“ Anna glaubte die Scham ihrer Freundin in diesem Moment so gut nachempfinden zu können, dass sie die Hände vors Gesicht geschlagen hatte. Doch Marit zuckte nur verständnislos die Schultern.
„Er hat nicht einmal auf einer Entschuldigung bestanden“, bemerkte sie nun doch etwas verwirrt, nicht über seine, sondern über ihre eigene widersprüchliche Reaktion.
„Wie bitte?“, fragte Anna und hob verwundert die Augenbrauen, bevor Marit sie aufklärte, gewissermaßen in Echtzeit, denn ihr selbst wurde auch erst jetzt wirklich bewusst, wie die Dinge sich abgespielt hatten.
„Ich glaube, er ist mir doch gefolgt. Ja, sicher, ist er das, sonst passt seine Reaktion auch gar nicht.“
Zu Annas Erschütterung fing Marit bei diesem Gedanken an zu Lachen.
„Wieso kannst du darüber lachen? Wer weiß, was passiert wäre, wenn du den Schlagstock nicht dabei gehabt hättest?“, fragte sie irritiert. Doch Marit gab lediglich ein nüchternes „Aber ich hatte ihn ja dabei“ zur Antwort.
Das eigentliche Gefühl, dass ihre Seele in diesem Augenblick flutete wie seichte Wellen das Wattenmeer, scheinbar unbedeutend doch in Wirklichkeit kraftvoll und unaufhaltsam, konnte sie einfach nicht so genau in Worte fassen, dass sie es Anna hätte begreiflich machen können. Es war ein triumphales Hochgefühl, zusammengesetzt aus dem Wissen darum, dass er ihr gefolgt war, weil er an ihr interessiert war, und dem Bewusstsein ihrer eigenen Überlegenheit. Für sich allein genommen hätte die Verfolgung, welche Motivation auch immer dahinter gesteckt haben mochte, nicht ihren beängstigenden Charakter verloren. Er hatte sie schließlich mit seiner Aufdringlichkeit in Angst und Schrecken versetzt. Ihren Schrecken hatte die Situation nur dadurch verloren, dass sie ihn besiegt hatte, sie hatte sich als die Stärkere erwiesen, aber er war doch noch immer ein Bewunderer, ein Gefolgsmann im wahrsten Sinne des Wortes, wie sie lächelnd für sich selbst feststellen musste. Dann dachte sie an den verletzten Mann am Boden und stöhnte vernehmlich. Und sie hatte ihn ziehen lassen!
Diesen seltsamen seelischen Entwicklungen ihrer Freundin konnte Anna natürlich nicht folgen. Sie nahm nur wahr, dass Marit in den folgenden Stunden kaum ansprechbar war und außer einigen gelegentlichen Seufzern kaum etwas von sich gab.
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Gegen 15.00 Uhr am Nachmittag kam Chiara aus der Klinik zurück, müde und abgespannt und dankbar, dass Anna etwas gekocht hatte. An diesem Tag hatte sie ihren ersten Coronapatienten auf der Intensivstation versorgen müssen, und die endgültige Gewissheit, dass das Virus sie erreicht hatte und bis in die letzte Bastion vorgedrungen war, wo nur noch die Atemgeräte den Tod verhindern konnten, hatte sie vorübergehend verstummen lassen. Im Krankenhaus hatte es sie sogar unempfindlich gemacht gegen Sandros Langsamkeit. Jetzt wurde es ernst, und es war nötig, alle Kräfte für die Aufgaben zu nutzen, die vor ihnen lagen, und sie nicht in zwischenmenschlichen Nebensächlichkeiten zu vergeuden. Für ein beklemmendes Angstgefühl war Chiara zu professionell, es war eher der Wunsch, ein solches nicht bei ihrer Schwester aufkommen zu lassen, die zu kindischen Panikanfällen neigte, der sie jetzt bei Tisch schweigen ließ, so dass eine seltsam anmutende Runde still in sich versunkener Frauen um den Küchentisch herumsaß, die ein außenstehender Betrachter leicht für eine Trauergemeinschaft hätte halten können. Anna, deren Schweigen weder ernst wie Chiaras noch entrückt wie Marits war, sondern nur dem zufriedenen Genuss eines wohlgelungenen Essens entsprang, brach es als erste.
„Ich habe gestern Pizza an ein paar Corona-Kranke ausgeliefert. Kannst du mir sagen, ob sich das Virus über Geldscheine überträgt?“, fragte sie ihre Schwester beiläufig.
Chiara spitzte ein wenig die Lippen, bevor sie antwortete.
„Ja, sicher. Du solltest auf jeden Fall in nächster Zeit Handschuhe tragen. Und Papa beim Geldzählen ebenso. Du hast dir hoffentlich gleich die Hände gewaschen, als du nach Hause kamst.“
„Ich glaube schon“, antwortete Anna etwas unsicher und runzelte die Stirn, sie konnte sich nicht wirklich daran erinnern.
„Wo war das denn?“, hakte Chiara nach und Anna antwortete etwas kurz angebunden:
„Konrad-Adenauer-Allee 19.“
Sie hatte das unbehagliche Gefühl, sich wegen der fehlenden Handschuhe fahrlässig verhalten zu haben, zumindest in den Augen ihrer Schwester.
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