Schülern, die sich im Treppenhaus vor dem Klassenraum versammelt hatten, ziemlich energisch wieder zum Unterricht in den Klassenraum komplimentieren.
Natürlich gab es auch einige Schüler, die heute keinen Tag zum »Austicken« hatten, sondern nahezu die ganze Zeit konzentriert arbeiteten, Hieronymus gelegentlich um Hilfe bei ihren Aufgaben baten und nur kurz und vorübergehend in ein Gesprächsgeplänkel mit anderen abglitten. Andere aber verspürten das plötzliche, ununterdrückbare Bedürfnis laut zu singen oder sich bei Mitschülern auf den Tisch zu setzen. Hier im Neubau gab es keinen eigenen Gruppenraum als abgegrenztes Territorium einer Klasse mehr, so dass sich lernwillige Schüler ebensowenig darin vom Rest der Klasse absondern konnten wie solche, die möglichst unbeobachtet vom Lehrer ihren unterrichtsfremden Beschäftigungen nachgehen wollten. Der einzige Differenzierungsraum der ganzen Etage war für Wochen schon ausgebucht.
Es war auch wieder kaum zu glauben, was sich alles nach Meinung der Lieben als Wurfgeschoss eignete; da konnte schon mal eine Schere quer durchs Klassenzimmer fliegen. Der immer wieder aufs Neue anschwellende Lärmpegel in der Klasse machte zwar anscheinend den Schülern nichts aus, sorgte aber wieder dafür, dass Hieronymus für einige anschließende Stunden in seiner Hörfähigkeit eingeschränkt war. Dass der Hausmeister während der Unterrichtszeit den Rasenmäher direkt unterhalb des Klassenzimmers knattern lassen musste, weil es natürlich nicht möglich war, solche Arbeiten am späteren Nachmittag nach Unterrichtsschluss zu erledigen, spielte eigentlich auch keine Rolle mehr.
Beinahe hätte Hieronymus sein Vorhaben vergessen, nach dem Unterricht des Tages noch die Noten für seinen Viertsemesterkurs der Oberstufe abzugeben, denn er hatte bereits den Schuleingang hinter sich gelassen und den Weg zu seinem Wagen eingeschlagen, als es ihm glücklicherweise doch wieder einfiel und er kehrt machte, um es noch zu erledigen.
Auf diese Weise kam Hieronymus an diesem Tag zum zweiten Mal an dem Motto der Schule vorbei, einem Zitat des Namensgebers, welches in Bronze gegossen neben der Eingangstür hing und schon mehrfach Opfer eines Farbattentats geworden war:
»Die Akzeptanz der Unterschiede ist Voraussetzung für die Überraschung von Gemeinsamkeiten.«
Noch niemals überrascht war Hieronymus davon gewesen, dass die Schüler generell ebenso über Unterrichtsausfall erfreut waren wie er, trotz aller Unterschiede zwischen ihnen und ihm, akzeptiert oder nicht.
Pures Glück war es dann ebenfalls, dass einer der Rechner, in die er seine Zensuren eingeben konnte, nicht besetzt war und ihm nach den zwei Stunden 8a-Inferno sogar das erforderliche Passwort für die Eingabe wieder einfiel. Allerdings hatte sich das Passwort seit fünf Jahren auch noch nie geändert. Die Noteneingabe selbst bewältigte Hieronymus mit zitternden Fingern auch noch relativ problemlos, aber der Drucker wollte ihm partout nicht die Liste ausspucken. Dabei hätte er gerne in Ruhe zuhause die Eingaben in den Rechner mit seinen Eintragungen in dem gelben Kursheft noch einmal verglichen, anstatt dies erst bei der Zeugniskonferenz am Mittwochnachmittag tun zu können.
6.
Am Nachmittag im Garten konnte sich Hieronymus partout nicht auf seine Lektüre konzentrieren. Eigentlich wollte er einen Text für seinen Philosophie-Unterricht der zehnten Klasse lesen, aber er musste schließlich widerwillig zur Kenntnis nehmen, dass er zwar immer wieder den aufgeschlagenen Text anstarrte, aber überhaupt nicht las, nicht auffasste, was da stand, sondern seinen Gedanken nachhing, die überhaupt nichts mit dem Text zu tun hatten. Dabei waren die äußeren Bedingungen um ihn herum doch eigentlich ideal, um sich in die Gedankenwelt von Richard David Precht zu vertiefen, denn es war ruhig, wenn man von den gelegentlich unweit im Landeanflug oder beim Start befindlichen Flugzeugen absah, und auch von den Temperaturen her vielleicht zum ersten Mal in diesem Jahr so, dass man es gut draußen auf der Gartenbank aushalten konnte, wenn man sich eine Wolldecke umgelegt hatte.
Aber Hieronymus saß auf der weißen Holzbank unter dem großen Apfelbaum, der gerade zaghaft begann auszutreiben, im Garten der Boschs und konnte sich nicht für Prechts Gedanken interessieren, weil er immer wieder aufs Neue in eigene Gedanken abglitt und seine Augen gleichsam wie Brenngläser bereits Löcher in den Text zu brennen schienen. Als er nicht nur deswegen einmal aufsah, bemerkte er, dass Molly unmittelbar vor ihm stand und ihn ebenso geistesabwesend anstarrte wie er eben noch die Zeilen und Buchstaben auf dem weißen Papier und dabei wie meistens mit ihren Kiefern vor sich hin malmte.
Schafe sind Widerkäuer und Molly war ein Schaf, insofern waren ihre geduldig andauernden Kieferbewegungen nichts Ungewöhnliches, aber dass sie Hieronymus dabei so anstarrte, war schon ungewöhnlich. So, als wollte sie ihm sagen:
»Lass´ es, das wird ja doch nichts!«.
Als ob sie sich ertappt fühlte, sah Molly auch gleich weg, als ihr Blick von Hieronymus erwidert wurde und wandte sich wieder ihrer Haupt- und Lieblingsbeschäftigung zu, dem Grasfressen. Genau deswegen bewohnte Molly ja auch das Anwesen der Boschs im Narzissenstieg der Gartenstadt in Hamburg-Alsterdorf. Sie hielt den Rasen kurz, der den größten Teil des Grundstücks um das kleine Backsteinhaus ausmachte, und ersparte so einen lärmenden und vielleicht auch stinkenden Rasenmäher und vor allem die Mühe, diesen regelmäßig zu benutzen.
Vor einiger Zeit hatten Nachbarn Molly angetroffen, wie sie die nähere Gegend erkundet hatte, indem sie ein Stück die Straße hinunter gegangen war. Das hatte die Boschs zu zwei Konsequenzen bewogen. Zunächst war die bisherige Schwachstelle in der Umzäunung des Grundstücks beseitigt worden, indem auch der Zugang zur Haustür von der kleinen Pforte an der Straße aus zu beiden Seiten mit einem niedrigen Zaun flankiert worden war, so dass Mollys Neugierde Grenzen gesetzt waren. Zum Anderen hatte sie Gesellschaft in Form eines zweiten Schafs bekommen, allerdings keines echten, man hatte sich ja nicht auf die Schafzucht verlegen wollen, sondern in Form eines blauen Holzschafs ins Lebensgröße. Molly schien diesen Partner zu akzeptieren, auch wenn die Möglichkeiten der Interaktion wohl begrenzt waren, jedenfalls fand das blaue Schaf eine gewisse interessierte Duldung bei ihr.
Natürlich hatte diese Methode der Gartenpflege mittels eines lebenden Tieres auch seine Nachteile. So konnte man im Garten nicht nur überall sehen, wo das abgefressene Gras in veränderter Gestalt abgeblieben war, sondern man roch es auch. Zudem setzte so ein Schaf ja auch Wolle an und musste deshalb regelmäßig unter die Schere. Dafür konnte man es aber nicht bei den eigenen Frisör-Terminen einfach so mitnehmen, und so kam zu diesem Zweck zu vereinbarten Terminen ein befreundeter Schafzüchter aus der Wedeler Elbmarsch mit seiner Ausrüstung bei den Boschs vorbei, der Molly auch Kost und Logis für die kalte Jahreszeit und für die Sommerferien bot.
Zu den Boschs gehörten neben Molly und Hieronymus auch seine Frau Helene. Denkt man bei diesem Namen aber vielleicht an eine blonde Schlagersängerin, so liegt man sowas von falsch, denn Helene Bosch war in ihrer Haarfarbe dunkelkupferrot und in ihrer politischen Gesinnung sogar hellknallrot. Und beides sogar, obwohl sie Polizistin in Hamburg war. Dieses war auch der Grund, warum an der Haustür der Boschs kein übliches Namensschild hing, sondern nur eines mit dem dezenten Hinweis, dass hier »H.B. & H.B.« zuhause seien. Denn während Hieronymus´ Klientel aus dem »Wilden Osten« Hamburgs sich eher selten nach Hamburg-Alsterdorf in die Gartenstadt verirrte - genau genommen nie, da war sogar Helgoland schon naheliegender - traf dasselbe für die »Klienten« von Helene schon weniger zuverlässig zu. Verwunderlich in diesem Zusammenhang war aber, dass es zwar in der Nachbarschaft zunehmend Einbrüche gab, die Boschs aber in all den Jahren trotz des anonymisierten Namensschildes noch nie solchen »Besuch« gehabt hatten.
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