Die Haltung besagter Eltern bezüglich der unbedingten Handy-Freiheit ihrer Kinder übertrug sich oft derart auf diese, dass sie in den Großen Pausen gerne auf einer der Bänke unter den beiden großen Linden im Schulhof saßen und ihren Blick auf die Displays ihrer Geräte klebten, wodurch sie dann zur sehr leichten Beute eines Aufsicht führenden Lehrers wurden, der dann zu ihrer Enttäuschung nicht gewillt war, die Einstellung ihrer Eltern in der Sache freudig zu teilen oder wenigstens mit ihnen zu diskutieren. Aber leider war eben der Platz zur Aufnahme der Handys für Hieronymus begrenzt, jedoch war das nur ein logistisches Problem, das man lösen konnte.
Nach der Pause schaffte es Hieronymus nur noch, die eingesammelten Geräte samt der dazugehörigen Formulare im Sekretariat bei der Sekretärin Beate Niedenhaus abzugeben, im Lehrerzimmer vergeblich nach dem Kollegen Richtofen Ausschau zu halten, um ihm vielleicht noch ein paar ergänzende Worte zu dem allzu knapp gemeldeten Todesfall zu entlocken, und auf dem Vertretungsplan zu entdecken, dass Schulleiter Dr. Zürn neuerdings für die Erste Große Pause am folgenden Tag eine Vollversammlung der Schule in der auch als Aula genutzten Mehrzweckhalle anberaumt hatte. Dieser Vertretungsplan war seit Kurzem in dem »Digitalen Dienstbuch« integriert, welches sich Hieronymus im Lehrerzimmer auf einem Flachbildschirm präsentierte. Diesem konnte er außerdem in aller Eile noch die wichtige Information entnehmen, dass »... neue Zangen für die SuS zum Aufsammeln von Müll angeschafft worden ...« seien (»SuS« war die gängige Abkürzung für Schülerinnen und Schüler, denn »SS« ging ja nun aus offensichtlichen Gründen gar nicht. Aber zu denken, »LuL« stünde für Lehrerinnen und Lehrer, wäre irrig; dafür benutzte man »KuK« und meinte Kolleginnen und Kollegen).
Dann musste Hieronymus schleunigst in den nächsten Unterricht. Mit PGW im zweiten Semester, also Schülern der 12. Klasse, erwarteten ihn zwei relativ entspannte Stunden. Sogenannte Disziplinprobleme in Form von störenden Verhaltensweisen standen da nur selten noch auf der Tagesordnung, wenn man davon absehen konnte, dass auch in diesem Jahrgang noch ein gewisser Hang zur Geschwätzigkeit herrschte. Wäre der Autor Neil Postman nicht zu früh verstorben, hätte er vielleicht noch ein Buch verfasst mit dem Titel: »Wir quatschen uns zu Tode«.
Auch wenn nicht zu erwarten war, dass alle Schülerinnen und Schüler in diesem Kurs bis zu den Abiturprüfungen durchhalten würden, dass alle zu den Prüfungen zugelassen werden würden und dass alle, die soweit gekommen sein würden, auch die Prüfungen bestehen würden, so waren doch solche »Knallschoten« wie Luke aus dem Jahrgang Zehn schon nicht mehr dabei in der Oberstufe. Probleme, die es hier natürlich auch gab, waren subtiler. Hohe und zudem unentschuldigte Fehlzeiten etwa oder zu viele Kursteilnehmer, die unvorbereitet in den Unterricht kamen, so dass man erst einmal das vorliegende Material zum Thema gemeinsam, womöglich mit lautem Vorlesen, zur Kenntnis nehmen musste, bevor man sich damit auseinandersetzen konnte. Das sorgte dann für Zeitdruck, denn die Themen und Inhalte wurden ja behördlich im Rahmen des Zentralabiturs vorgegeben, und das ließ ohnehin wenig Zeit und Raum für eine eigene Schwerpunktsetzung des Kurses oder für thematische Exkurse.
Nach dieser recht entspannenden, aber heute auch nicht so wirklich interessanten und anregenden Doppelstunde wollte Hieronymus erneut versuchen, mit dem Kollegen Moritz von Richtofen über dessen Botschaft zu sprechen, um Genaueres zu erfahren, denn schließlich war ihm der Kollege Mausmann nicht nur als Schulinspekteur durchaus bekannt, aber wiederum vermochte er Moritz nicht aufzufinden. Der Stundenplan von Richtofens, der wie der von allen Unterrichtenden für jedermann jederzeit einsehbar in beiden Lehrerzimmern aushing, verriet aber nichts über dessen aktuellen Aufenthalt, denn eigentlich folgten für ihn ebenfalls noch zwei Stunden Unterricht.
Hieronymus begann langsam damit, sich mit dem Umstand abzufinden, dass er von seinem Freund Moritz heute nichts Näheres mehr erfahren konnte. So schlimm war das aber trotz aller Neugier nicht, denn Hieronymus verfügte ja noch über eine viel bessere und verlässliche Quelle. Nur eben nicht hier in der Schule.
5.
»Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!« Diese Aufforderung des italienischen Philosophen und Dichters Dante Alighieri in seiner »Göttlichen Komödie« lässt den irrtümlichen Eindruck entstehen, dass er bereits gewusst hat, was Unterricht in einer achten Klasse einer Hamburger Stadtteilschule bedeutet. Aber wenn dem tatsächlich so gewesen wäre, dann hätte er diesem Phänomen in seiner Schilderung des »Inferno« sicher einen ganzen Höllenkreis gewidmet. Hieronymus aber hatte das Phänomen kennen lernen dürfen und befand die übrigen Kreise der Hölle in Dantes »Inferno« seitdem als recht gemütliche Orte. Er hatte den Auftrag, die 8a im Fach Gesellschaft zu unterrichten, was aber nur bedeutete, die vier Wochenstunden einigermaßen heil an Körper und Seele zu überleben. Da fiel eine vorübergehende Taubheit seines Gehörs nach einer Doppelstunde überhaupt nicht ins Gewicht.
Eigentlich waren die Unterrichtsthemen, festgelegt durch den sogenannten Rahmenplan, welcher zur Zeit ein »Verfallsdatum« von knapp einem Jahr aufwies, ja unter anderem die ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklungen des Neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland, aber das sahen die lieben, voll pubertierenden Schülerinnen und Schüler ganz anders als der Rahmenplan und ihr Lehrer, denn sie waren vor allem an ihrer eigenen ökonomischen und sozialen Entwicklung in gelegentlicher und lockerer politischer Kooperation mit Mitschülern, aber meist eher in Konkurrenz zueinander interessiert.
Zum zweiten Mal heute fiel Hieronymus eine Zeile aus BOB DYLANs All Along the Watchtower ein:
»There must be some way out of here!«
Ansonsten versprach er sich nur das Schlimmstmögliche von der bald anstehenden Klassenarbeit. Er würde seine Benotungsansprüche wieder einmal in den Keller bringen müssen, denn da eine Klassenarbeit, bei der mehr als ein Drittel der Ergebnisse »unter dem Strich« lagen, von der Schulleitung genehmigt werden musste, würde eine Beibehaltung seines geplanten und ohnehin schon niedrigst angesetzten Bewertungsmaßstabes zur Folge haben können, dass die Arbeit eben nicht genehmigt werden würde und daraufhin zu wiederholen sei. Hieronymus vermochte aber keinen Grund für die Annahme zu sehen, dass eine Wiederholung außer zu mehr Arbeit für ihn und zu einem Proteststurm der Klasse zu einem besseren Ergebnis führen würde.
Die Schüler wussten nichts, kannten nichts und konnten nichts. Natürlich nur bezogen auf die Unterrichtsinhalte, bezogen auf aktuelle Serien und die Werbung im Privat- und Bezahlfernsehen oder im Netz, auf Themen und Meinungen in den sozialen Netzwerken und überhaupt jeden öffentlichen Klatsch und Tratsch, waren sie dagegen hochinformiert und topfit.
Doch Hieronymus überlebte den »Winter« dieser fünften und sechsten Stunde in der 8a am Montag wie üblich auch diesmal. Er durfte sogar Alfredo begrüßen, der kurz einmal hereinschaute, aber sich nach einer Viertelstunde wieder trollte, nachdem er die Klasse nach Kräften »aufgemischt« hatte. Angeblich ging er zu einer besonderen Maßnahme der Schule zur Betreuung für Schüler wie ihn, was Hieronymus aber aktuell nicht überprüfen konnte, weil er nicht über eine Teilnahme Alfredos an dieser Maßnahme informiert worden war, die Maßnahme sowieso nur vom Hörensagen kannte und deswegen auch nicht wusste, wen er wo und wann deswegen nach dem Unterricht darauf hätte ansprechen können.
Den »Pieper« für die Schülertoilette behielt Hieronymus tunlichst in der Hosentasche und rückte ihn nur heraus, nachdem sich ein Schüler, der die Toilette während der Unterrichtszeit aufsuchen wollte, einigermaßen ordentlich in die dafür zur Dokumentation ausliegende Liste eingetragen hatte. Anderenfalls wäre der »Pieper« am Anfang der Stunde bereits verschwunden gewesen und die ganze Unterrichtszeit von Hand zu Hand gegangen, wenn die Schüler zu zweit oder in größeren Gruppen das Bedürfnis nach einem ausführlichen Plausch auf der heimeligen Toilette verspürt hätten. Aber auch so musste Hieronymus zwischendurch eine Gruppe von
Читать дальше