Doktor Greene erscheint und erklärt mir, dass der Tumor zwar bittere Realität sei, es aber durchaus auch gute Neuigkeiten gebe. Die bisherigen Untersuchungen hätten nämlich ergeben, dass mein restlicher Körper, insbesondere Leber und Lunge, frei von Metastasen seien.
Ich antworte, „Das hätte ich heute nach dem Aufstehen aber auch nicht gedacht, dass die gute Nachricht des Tages lauten würde ‚Ihr Körper ist frei von Metastasen.‘ Aber trotzdem vielen Dank!“
Wir müssen beide lachen. Ich traue mich nicht, nach meinen Überlebenschancen zu fragen, weil ich nicht theatralisch wirken will. Vielleicht geht es gar nicht um Leben und Tod, deswegen will ich nicht übertreiben. Vielleicht schnippeln sie das unwillkommene Gewächs raus, und alles ist schnell wieder vergessen. Gleichzeitig denke ich, wie albern – wenn ich wirklich sterben müsste, könnte es mir doch egal sein, ob mich Doktor Greene, den es gar nicht gibt, oder Doktor M, den ich kaum kenne, für einen Hysteriker halten.
Der Doktor erklärt mir, es würde eine Besprechung meiner Situation im sogenannten Tumorboard der Klinik geben. Das sei ein interdisziplinäres Gremium von Ärzten, die über die bestmögliche Behandlung beratschlagen und dann eine gemeinsame Empfehlung aussprechen. Anschließend werde der behandelnde Arzt, in meinem Fall Professor X, die erforderlichen Maßnahmen mit mir erörtern. Mit ziemlicher Sicherheit sei eine größere Operation erforderlich, für die ich bei Professor X absolut an der richtigen Adresse sei.
„Lassen Sie sich einen Termin bei seiner Sekretärin für kommende Woche geben. Dann wird auch das Ergebnis der Biopsie da sein, und wir werden wissen, womit genau wir es zu tun haben.“
Mittlerweile ist es später Nachmittag geworden. So langsam muss ich mich mal zu Hause melden. Vorher sollte ich aber gut überlegen, wie ich es meiner Frau und unseren beiden Kindern sagen werde. Ich fühle mich nicht mehr so ohnmächtig wie am Vormittag. Dennoch brauche ich für das Gespräch zu Hause einen Plan. Ich spiele verschiedene Szenarien durch.
Oft ist ja der direkte Weg der beste, wie wäre es mit ‚Moin Leute, ich hab‘ Krebs‘?
Okay, wenig einfühlsam.
‚Moin Leute, es tut mir leid , aber ich hab‘ bedauerlicherweise Krebs.‘
Nein, zu förmlich. Etwas schonender wäre gut, also vielleicht ‚Wie Ihr ja wisst, war ich heute zur Darmuntersuchung. Da wurde etwas entdeckt, das demnächst operiert werden muss…‘
Auf gar keinen Fall darf es Heulen und Zähneklappern geben! Auf gar keinen Fall will ich verzweifelt und verängstigt wie meine Großmutter zusammenbrechen. Das kann ich uns nicht antun. Solange ich stehen kann, wird mich niemand auf den Knien sehen, nicht Anna, meine Frau, und schon gar nicht die Kinder. Ich verspreche mir selbst, keine Träne zu vergießen, und hoffe inständig, das mindestens vor den Kindern durchhalten zu können.
Da nichts im Leben so nützlich ist wie ein fester Vorsatz, den man sich beizeiten ins Bewusstsein und am besten auch ins Unterbewusstsein betoniert, tue ich genau das: ‚Ich werde nicht heulen. Ich werde nicht auf Knien winseln. Bloß kein Selbstmitleid.‘ Und gleich nochmal, ‘Ich werde auf gar keinen Fall heulen!‘
Während der Fahrt mit dem Auto rekapituliere ich den Tag. Sehen wir den Tatsachen ins Auge, ich habe also tatsächlich Krebs. Wenn es schlecht läuft, bin ich fällig wie Oma und Onkel Richard und Tante Uschi. Richard war wenige Jahre nach meiner Großmutter an Blasenkrebs erkrankt und bekam dann ebenso wie sie Metastasen auf der Leber, was letztlich beider Schicksal besiegelte. Uschi hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs, der sie direkt umbrachte, also ohne den zusätzlichen Aufwand mit Metastasen.
Ich mache mir nichts vor: Das kann auch mir blühen. Es ist also gut, wenn ich mich rein vorsorglich gleich jetzt damit auseinandersetze, im schlimmsten Fall das Besteck abzugeben. Ich will es Anna und den Kindern nicht unnötig schwer machen. Sie sollen nicht leiden, nur weil ich leide. Am besten, sie merken überhaupt nichts davon, wenn es mir nicht gut gehen sollte. Verschweigen geht nur leider nicht. Ich kann ja schlecht vortäuschen, in den Urlaub zu fahren, wenn ich zu der Operation aufbreche.
Mir fällt auf einmal ein Film über den amerikanischen Bürgerkrieg ein, den ich vor Jahren gesehen habe. ‚Gettysburg‘. Darin kommt eine Szene vor, an die ich jetzt denken muss. Jeff Daniels spielt einen Nordstaaten-Offizier, eine reale historische Figur, namens Joshua Laurence Chamberlain, der unbedingt die Stellung auf einem strategisch wichtigen Hügel gegen die anstürmenden Südstaatler halten muss. Nach unzähligen verlustreichen Angriffen geht seinem Regiment die Munition aus. Aber er kann sich nicht zurückziehen, weil die Südstaatler sonst die ganze Front von der Flanke her aufrollen.
Er sagt zu seinen Leuten, „Gentlemen, wenn wir diese Schlacht verlieren, dann verlieren wir den Krieg.“
Chamberlain hat also gar keine Wahl, denn die Munition ist ja verschossen. Also befiehlt er, die Bajonette aufzupflanzen. Er will die angreifenden Südstaatler endgültig brechen, indem er in seiner Verzweiflung einen Sturmangriff wagt. Es ist ein total verrückter Plan, aber seine Leute folgen ihm.
„Die Rebellen müssen noch fertiger sein als wir. Pflanzt die Bajonette auf!“, brüllt er mit stählernem Blick.
Der Angriff hat Erfolg, und die Südstaatler werden überrannt. Plötzlich steht der gegnerische Kommandeur mit dem Revolver im Anschlag vor Chamberlain. Er zielt aus dreißig Zentimetern Entfernung direkt zwischen Chamberlains Augen und spannt den Hahn. Dem ist jetzt klar, dass er sterben muss. Der andere wird ihm gleich ins Gesicht schießen. Chamberlain strafft sich ein letztes Mal und bläst Luft durch seinen riesigen Seehundschnäuzer. Er ist bereit.
Der Südstaatler drückt ab. Klick. Der erwartete Schuss löst sich aber nicht, weil die Trommel bereits leergeschossen ist. Chamberlain hebt zuerst die Augenbrauen und dann langsam seinen Säbel. Er hält ihn dem Südstaatler an die Kehle. Er sagt voller Würde, „Ihren Revolver, Sir!“
Der andere übergibt die Pistole und antwortet, „Ihr Gefangener, Sir.“ Szene vorbei.
So wie Chamberlain werde auch ich dem Tod gelassen ins Auge blicken. Komm und hol mich eben, wenn Du musst! Ich sage es mehrmals laut. Chamberlain, Seneca, Schopenhauer, Winston Churchill, mein Onkel Richard, meine Tante Uschi und viele andere werden mit mir sein. Wie Petronius so richtig über einen Verstorbenen schrieb: Abiit ad plures – wörtlich heißt das, er ging fort, zu den Mehreren, und bedeutet natürlich dahin, wo die meisten bereits sind.
Ich merke, wie der Gedanke mich zugleich beruhigt und amüsiert.
So. Nachdem mein Verhältnis zum Tod nunmehr geklärt ist, fordert meine Erkrankung ihr erstes Opfer: Das zarte Pflänzchen Selbstmitleid, das seit heute Vormittag fleißig keimte, ist soeben gestorben. Beste Voraussetzungen, um der Familie gegenüberzutreten. Kein Selbstmitleid, keine Tränen! Ich parke das Auto und steige aus. Entschlossen mache ich mich auf den Weg zum Haus.
Im Haus begrüßt mich schwanzwedelnd Bruno, unser brauner Labrador. Er spürt, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist und drängt sich an mich, um zu trösten. Dann sehe ich Anna. Ich umarme sie.
Sie fragt besorgt „Was ist denn nur los? Du warst ja ewig weg! Warum hat es denn so lange gedauert?“
Читать дальше