Dabei hatte er Raucher immer als haltlos verachtet. Nichts gegen maßvolle Pfeifen– oder Zigarrenraucher! Aber er hatte mit einer starken Zigarettenraucherin zusammengelebt. Gloria war Kettenraucherin gewesen. Sie wusste, dass Zigaretten für das Aussehen einer Schauspielerin Gift waren. Aber sie hatte es nicht lassen können.
Sie hatte dieses Leben bis an den Rand ihrer Möglichkeiten gelebt, mit allem, was es hergab – bis sie ihr eigenes Bild nicht mehr im Spiegel ertragen konnte. Bis sie auch ihn und ihre Tochter nicht mehr ertragen konnte. Denn man sieht den anderen leicht durch die Brille seiner eigenen Probleme.
Born warf ärgerlich seine Zigarette weg und trat näher an die Felswand; Nikotingeruch erinnerte ihn zu sehr an jene letzten Wochen mit Gloria, an diese unsägliche Mischung aus Schweiß, Parfüm und Alkohol.
Er sah mit dem Fernglas auf die Ebene mit den in der Dunkelheit wie ein kleines Manhattan beleuchteten Anlagen der Petrochemie hinaus. Aber dort regte sich nichts. Nicht einmal Vögel waren um diese späten Stunden auszumachen. Sein Blick wanderte über die Baumkuppen auf der anderen Seite. Nein, wenn überhaupt, dann musste das Tier sich hier im Wald verstecken.
Müdigkeit überkam ihn, und er setzte sich an einen Baumstamm und legte das Fernglas neben sich auf den Boden. In der Eiche gegenüber hockte ein Turmfalke.
Irgendwann musste er eingeschlafen sein. Er sah gähnend auf seine Armbanduhr – zweieinhalb Stunden. Er hatte wahrhaftig zweieinhalb Stunden geschlafen. Plötzlich hörte er ein rhythmisches Rauschen in der Luft – wie das Schlagen großer Flügel. War er davon geweckt worden?
Born blickte sich irritiert um. Am Himmel jenseits der grauen Hügel war nichts zu erkennen. Auch nicht über den Baumwipfeln. Und doch war das Geräusch so deutlich, als befinde es sich fast neben ihm.
Dann verstummte es und in der Luft war nur noch ein unmerkliches Sirren.
Born griff nach seinem Gewehr. Er hatte noch nie einen Schuss damit abgefeuert; es war ein Geschenk seines verstorbenen Bruders. Er kletterte eilig den fußbreiten Pfad an der Hügelkuppe entlang, um das Plateau zu erreichen, von dem aus man ins Tal blicken konnte.
Als er auf der Felsplattform stand, schwebte der riesenhafte schwarze Schatten über ihm. Noch ehe er das Jagdgewehr hochziehen konnte, spürte er einen stechenden Schmerz in der Schulter und wurde nach oben gerissen.
Das Gewehr fiel in die Tiefe … und gleich darauf gewahrte er unter sich den Abgrund, weil der Saurier mit ihm vom Felsplateau wegflog.
Dann drehte er im Gleitflug wieder auf den Waldhügel zu, und Born spürte, dass sein Schnabel ihn mit seinen langen spitzen Zähnen beim Pullover gepackt hielt. Offenbar hatte das Tier seinen Nacken verpasst.
Borns Fäuste stießen mit aller Kraft gegen den harten schwarzen Schnabel über sich.
Er hörte, wie die Nähte seines Pullovers rissen und das morsche Gewebe nachgab …
Gleich darauf fiel er wie ein Stein in die Tiefe, mitten in das Geäst eines großen Laubbaums. Ein Ast traf seine rechte Hüfte. Dann streiften Zweige wie glühendes Metall sein Gesicht, und er stürzte hart ins Unterholz.
Er tastete nach dem Blut in seinem Nacken. Offenbar hatten die Zähne des Untiers keine tiefen Wunden gerissen. Auch seine Beine fühlten sich nicht so an, als sei etwas gebrochen. Glück gehabt … ausgerechnet der uralte grüne Pullover, den Karen so verabscheute, hatte ihm das Leben gerettet.
Hier unten war es fast vollständig finster. Vom Himmel konnte er durch das Blätterdach nur noch Ausschnitte sehen.
Einen Augenblick später hörte er wieder das Sirren in der Luft. Und durch den Ausschnitt im Blätterdach sah er das riesige Tier zum ersten Male aus der Nähe. Es schwebte mit aufmerksamem Blick über dem Wald.
Born hielt den Atem an. Er hatte keine Ahnung, wie gut es in der Dunkelheit sah. Doch selbst, wenn es ihn entdeckte, würde es nicht so einfach sein, ihn aus dem Unterholz zu ziehen. An der Vorderseite seiner gewaltigen Flügel befanden sich zwar lange, dünne Greifarme, und die drei kurzen Finger trugen scharfe Krallen. Aber anscheinend jagte es seine Beute lieber mit dem Schnabel.
Dann war es mit einem krachenden Geräusch auf dem einzigen dicken Ast über ihm gelandet, der sein Gewicht trug.
Born beugte sich erschreckt ins Dunkel der Blätter zurück. Der Schnabel des Tieres war jetzt nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Seine Augen musterten aufmerksam die Umgebung. Gleich darauf stieß es einen Mark erschütternden Schrei aus, der an einen riesigen Raben erinnerte, und schwang sich mit einer einzigen gewaltigen Flügelbewegung in die Luft.
Blätter und kleine Zweige rieselten auf ihn herab.
Großer Gott! Das war knapp gewesen!
Born wartete noch eine Weile ab, ehe er zu seinem Landrover zurück stolperte. Er bewegte sich immer dicht an den Stämmen der hohen Laubbäume entlang, weil er hoffte, auf diese Weise weniger leicht entdeckt zu werden.
Um das Gewehr im Tal würde er sich später kümmern. Die Redaktion des Reporter war auch nachts besetzt. Er hätte sich jetzt unmöglich ins Bett legen können …
Wenn die Polizei ihm nicht glaubte, würde er eben die Presse einschalten müssen.
Linda Meyer war der Typ von hungriger Starreporterin, den Peter Bertram vergötterte, weil nur Mitarbeiter dieses Kalibers ihm garantierten, dass er beruflich die nächste Woche überlebte.
Sein Posten als Chefredakteur galt als Schleudersitz. Der Verleger des Reporter hatte in den letzten Jahren drei leitende Redakteure verschlissen. Der Grund lag nicht etwa in Unfähigkeit oder persönlichen Aversionen, sondern in jener neuen Mentalität der „Gewinnmaximierung“, die aus den USA herübergekommen war und jetzt auch in Europa gesellschaftsfähig wurde.
Als Lindas Handy jenen nervigen Ton von sich gab, der jede Party und den lautesten Straßenverkehr übertönte, befand sie sich gerade auf einem Dauerlauf im ersten Morgengrauen durch die City. Ihr Körper war schweißnass. Ihr lilafarbenes Stirnband umschloss dunkelbraunes, halblanges Haar, das nie einen Friseur sah. Sie hatte dieses Haar von ihrer Großmutter geerbt. Es war so kräftig und unverwüstlich, dass man daraus die besten Bürsten der Welt hätte herstellen können.
Die Kerle an den Marktständen kommentierten ihren Auftritt immer mit Gejohle. Dann knallten sie die eisernen Gestelle noch ein wenig lauter zusammen.
„Hallo Darling“, flüsterte Bertrams Stimme ins Telefon. „Du studierst doch Paläontologie ? Oder liege ich da falsch?“
„Hab’s ein Semester vor der Abschlussprüfung auf Eis gelegt. Ich muss dich wohl nicht daran erinnern, warum?“
„Hilf mir bitte auf die Sprünge?“
„Weil in eurer Nervenheilanstalt kein Platz für ernsthafte Studentinnen mit Nebenjobs ist. Ihr braucht Redakteure, die vierunddreißig Stunden am Tag verfügbar sind.“
„Vierundzwanzig, Linda, wir wollen doch nicht unverschämt sein. Bist du nun Expertin oder nicht?“
„Expertin wofür?“
„Ich glaube, ich hab’ da was nach deinem Geschmack – Flugsaurier!“ Bertram betonte mit gespieltem Ekel das „i“ in Saurier, als fasse er einen schmuddeligen Küchenlappen an.
„Du meinst neue Funde? Doch nicht bei uns?“
Linda dachte an ihre letzte Vorlesung. Den jüngsten Flugsaurier – genauer gesagt, seine versteinerten Überreste – hatten Berliner Forscher kürzlich in einem Steinbruch nahe der südspanischen Stadt Valdepenas entdeckt. Eine unbekannte Spezies, mit einer Flügelspannweite von zwölf Metern größer als ein Lear-Jet. Man hatte ihn den „Drachen von Solana“ getauft, nach dem spanischen Fundort La Solana. Bisher galt der Quetzalcoatlus mit einer Spannweite von zehn Metern als größter fliegender Saurier.
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