„Vielleicht sollte ich doch lieber von den Geisteswissenschaften zu den Naturwissenschaften überwechseln? Da bewegt man sich in sicherem Fahrwasser.“
„Weil man die Dinge anfassen kann?“, fragte Born. „Niemand hat jemals die DNS angefasst. Vitamine, Atome, Quanten könnten prinzipiell genauso gut Mythen sein wie die Theoreme der Philosophie.“
„Ja, Ihr Vater ist ein großer Skeptiker, was den wissenschaftlichen Fortschritt anbelangt“, lachte Linda. „Ich glaube, er sympathisiert heimlich mit dem Buddhismus.“
„Alex und Buddhist? Nein, dann schon eher Epikureer , nicht wahr, Paps?“
„Kommt drauf an, was darunter zu verstehen ist.“
„Jemand, der nach einem bequemen und genussreichen Leben strebt …“
„Dann wäre ich wohl kaum Wissenschaftler geworden. In die Geheimnisse der DNS einzudringen, ist ein eher mühseliges Geschäft.“
Als Karen den Nachtisch vorbereitet hatte und mit dem Tablett die Wendeltreppe zur Dachterrasse heraufkam, war ein eigentümlicher, lang gezogener Laut zu hören – wie der Schrei eines großen Raben.
Born setzte sein Weinglas ab und blickte besorgt zu den Bergen hinüber.
„Du meine Güte, was war das denn?“, fragte Karen.
Born stand auf und trat ans Geländer. Der Laserstrahl des Kabaretts hatte für einen Augenblick ausgesetzt. Am Horizont bewegten sich wie in Zeitlupe die Lichter eines großen Verkehrsflugzeugs.
„Sollten wir deiner Tochter nicht besser sagen, was passiert ist, Alex?“, fragte Linda.
„Ja, vielleicht. Wir waren heute draußen in den Wäldern, Karen. Dort sind wir auf die Leiche einer Frau gestoßen. Ich möchte, dass du weißt, in welcher Gefahr wir uns befinden.“
„In Gefahr? Ist irgendein verrückter Killer unterwegs?“
„Du erinnerst dich an den Schatten, den du zwischen den Wolkendecken gesehen hast?“
„Irgendwo da draußen im Wald ist ein riesiges Tier – ein Flugsaurier“, sagte Linda. „Alex’ Beschreibung trifft bis ins Detail auf die Bilder zu, die Wissenschaftler aus Knochenfunden rekonstruiert haben.“
„Du hast ihn mit eigenen Augen gesehen, Paps?“
„Beim zweiten Mal bin ich ihm nur wegen meines morschen grünen Pullovers entkommen.“
„Alex …!“ Linda streckte die Hand aus.
Das dunkle Etwas kam fast lautlos über die Dächer herangeschwebt. Mit seiner gewaltigen Flügelspannweite erinnerte es unter dem klaren Sternenhimmel an ein überdimensionales Segelflugzeug. Nur viel unwirklicher und gefährlicher – aus einem Alptraum oder wie ein Schreckensbild, das sich ein verwirrter Geist ausgedacht hatte.
Einen Augenblick lang schien es über ihnen in der Luft stillzustehen.
Seine wachsamen dunklen Augen musterten die Umgebung, als halte es nach Opfern Ausschau.
Dann setzte der Laserstrahl der Lichtkanone auf dem Dach des Kabaretts ein und tauchte das Tier in gleißend helles Licht. Diesmal wanderte die Lichtsäule nicht wie üblich über den Himmel, sondern verharrte senkrecht in der Luft.
„Himmel – und ich hab’ meine Kamera in der Wohnung vergessen!“, sagte Linda.
Born betrachtete fasziniert im Laserlicht die lederartige, dunkelbraune Struktur der Flügel. Wäre da nicht sein merkwürdig geformter Kopf gewesen, der an ein Krokodil erinnerte, man hätte ihm durchaus so etwas wie majestätische Schönheit bescheinigen können.
Plötzlich stieß das Tier einen markerschütternden Schrei aus. Er klang noch um einiges lauter als beim ersten Mal. Dann stürzte es in halsbrecherischem Flug auf die Lichtanlage des Kabaretts hinab.
„Mein Gott, was hat er vor?“, rief Karen.
„Er attackiert den Laserstrahl“, sagte Born. „Anscheinend macht das Licht ihn aggressiv.“
Der harte Schnabel des Flugsauriers zerschmetterte mit einem einzigen Schlag die Scheibe der Laserkanone … und das Licht erlosch. Es gab einen Knall und eine weiße Wolke stieg auf, als das Kühlmittel aus dem Aggregat entwich.
Auf der Straße hatten sich Passanten versammelt, die ungläubig das Schauspiel über ihren Köpfen beobachteten. Der Saurier saß auf der Dachkante und beäugte die Menschen unter sich. Einen Augenblick später stieß er sich ab, beschleunigte mit kraftvollem Flügelschlag und zog steil nach oben.
Wieder verharrte er fast regungslos über ihnen in der Luft – als warte er ab, ob sein „Licht schleudernder Gegner“ tatsächlich vernichtet sei.
Dann wandte er den Kopf in Richtung Dachterrasse und stieß einen krächzenden Laut aus – viel leiser als die vorausgegangenen Schreie.
„Schnell in Deckung“, warnte Born. „Jetzt sind wir an der Reihe.“
Sie liefen in den Schutz des Vorraums zurück.
Einen Augenblick später landete das Untier krachend auf dem Esstisch.
Porzellan splitterte unter seinen krallenbewehrten Füßen. Sein schnaubendes Lungengeräusch erinnerte an einen Drachen. Der Flugsaurier war zwar ein eleganter Flieger, aber sein Atem roch nach verfaultem Aas.
Die schwarzen Augen forschten ärgerlich in der Dunkelheit des Vorraums. Born war froh, dass er wegen der abendlichen „Romantik“ kein Licht eingeschaltet hatte.
„Nicht bewegen“, flüsterte er. „Es hat uns im Visier.“
Gleich darauf schoss der schnabelartig verlängerte Schädel des Flugsauriers mit einer blitzschnellen Bewegung unter das Dach des Vorraums … und sie wichen entsetzt zur Treppe zurück.
Seine scharfen, verschränkten Zähne waren nur noch einen knappen Meter von ihnen entfernt.
Diesmal zerriss sein wütender Schrei ihnen fast das Trommelfell.
„Nach unten …!“, rief Born.
Karen und Linda liefen die eiserne Wendeltreppe zum Salon hinunter.
Während er die Polizei anrief, schoss Linda vom Fenster aus so viele Fotos wie sie konnte. Das Tier glitt suchend durch die Straßenschlucht.
Am Ende der Straße wendete es noch einmal in weitem Bogen, beschleunigte mit wenigen Flügelschlägen über dem Telefonmast der Hauptpost und glitt langsam an ihrem Fenster vorüber.
Seine stechenden kleinen Augen im bräunlich-grauen Fell waren in ein rotes Vorfeld eingebettet. Der Motor von Lindas Spiegelreflexkamera surrte. Wahrscheinlich würden die meisten Aufnahmen zu dunkel sein.
Aber dann erwischte sie den Flugsaurier doch noch genau in dem Moment, als er auf die hell strahlende Leuchtreklame des Filou zuflog …
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