Es war wie der Sekundenschlaf auf der Autobahn, wenn man sich plötzlich auf der anderen Fahrbahn wiederfand.
Daran waren natürlich ihre unsäglichen Prüfungsaufgaben schuld. Welcher Mensch konnte schon ernsthaft etwas über die „ontologische Differenz von Sein und Wesen in der Philosophie des Thomas von Aquin“ sagen, ohne aufgeblasen und lächerlich zu wirken?
Karen richtete sich überrascht auf. Da war es wieder … irgendetwas wie ein riesiger, dunkler Flügel … aber gab es denn überhaupt so große Vögel?
Sie packte eilig ihre Sachen zusammen und lief zur Wendeltreppe. Der Wind hatte weiter aufgefrischt und zerrte an den großen Topfpflanzen. Manchmal neigten sich die Kronen der jungen Bäume so stark über das Geländer der Terrasse, als drohten sie jeden Augenblick in die Tiefe zu stürzen.
Karen liebte diese Wohnung über dem ehemaligen Naturkundemuseum, weil sie diesen großen Dachgarten besaß.
Schon halb auf der Treppe stehend musterte sie noch einmal argwöhnisch die Wolkendecke. Dann eilte sie quer durch die Wohnung bis zur Eisentür, die erst vor kurzem als provisorischer Durchbruch zum benachbarten Gebäude eingebaut worden war, und beugte sich ins Institut.
„Paps? – Da draußen ist irgendetwas Merkwürdiges in der Luft!“
Durch eine Glaswand am Ende des lang gestreckten Raumes sah man Wissenschaftler, deren Kunststoffanzüge und Helme an plumpe Raumanzüge erinnern. An den Arbeitstischen arbeiteten Wissenschaftler in makellos weißen Kitteln. Born trug als einziger normale Kleidung. Er wandte sich auf seinem Drehstuhl nach Karen um, als er ihre Stimme hörte.
„Kommst du gut mit der Arbeit voran?“
„Es geht nicht ums Studium. Ich war gerade auf der Dachterrasse. Erst gab es eine fürchterliche Sturmbö – und dann tauchte plötzlich dieser Schatten auf …
„Ein Schatten – wovon?“
„Ich weiß nicht …“
Born kam zu ihr herüber und legte lächelnd seinen Arm um Karens Schulter. „Du bist wieder mal eingeschlafen, hab’ ich Recht? Weil du zu viel arbeitest.“ Er sah auf seine Armbanduhr. „Himmel, ich bin spät dran. Diese senilen alten Millionäre im Club nehmen es ganz genau mit der Pünktlichkeit.“
„Glaubst du, du wirst das Geld für deine Forschungen von ihnen bekommen?“
„Keine Ahnung“, sagte er achselzuckend. „Vielleicht imponiert es ihnen ja, dass ihr Antragsteller für den diesjährigen Nobelpreis nominiert ist …“
„Du bekommst es, Paps – genauso wie den Preis, das spüre ich!“
Karen küsste ihn auf die Wange.
Doktor Born hatte den Nachmittag im Gor don-Club verbracht – einer Vereinigung seniler Millionäre, die sich Röntgenaufnahmen ihrer künstlichen Hüftgelenke zeigten und einander mit klappernden Zahnprothesen vorschwärmten, wie sie ihre ersten illegalen Millionen eingefahren hatten …
Denn darüber waren sich alle einig – dass man mit ehrlicher Arbeit selten reich wurde.
Das Gebäude lag in einem verfallenen Park hinter hohen Backsteinmauern. Seine Fassade glich eher einem verarmten Kinderheim als einem vornehmen Club. Aus den Ritzen der Portaltreppe wuchs Unkraut. Die blinden Fensterscheiben gaben nur widerwillig den Blick auf schäbige nikotingelbe Gardinen frei, und an der Tür empfing einen das Faktotum der Gesellschaft, die perfekte Personalunion von unterwürfigem Hausdiener, emsigem Hausmeister und grauer Eminenz.
Ansinnen von außerhalb des Clubs, die den Rahmen üblicher Plaudereien sprengten, wurden auf einem vervielfältigen Formular herumgereicht. Landete das schlecht leserliche Blatt nach einem flüchtigen Blick – der magisch von der mit rotem Filzstift eingekreisten Geldsumme angezogen wurde – im herumgereichten Korb, dann bedeutete es das unwiderrufliche Aus für den Besucher.
Das gleiche Ergebnis bewirkte auch ein unmerkliches Kopfschütteln.
Doch jedes Kopfschütteln in der Runde orientierte sich an den wackelnden Köpfen der anderen, und wie, um Himmels willen, dachte Doktor Born resignierend, hielten sie überhaupt ihr seniles Zittern und ihr ablehnendes Kopfschütteln auseinander?
Er hatte gehofft, er würde hier jemanden finden, der seine Genversuche finanzierte. Aber diese sabbernden alten Männer lebten nur noch in der Vergangenheit.
Der Name des Clubs war von der bekannten englischen Gin–Marke abgeleitet. Das sagte eigentlich schon alles über die wahren Interessen seiner Mitglieder. Er würde niemals Geld für private Studien von ihnen bekommen, gleichgültig, ob es dem Wohle der Menschheit diente oder (wie man argwöhnte) nur seiner beruflichen Karriere.
Man hatte ihm geraten, nichts von seiner Nominierung für den diesjährigen Nobelpreis in Biologie zu erwähnen. Das hätte als Angeberei aufgefasst werden können, wenn nicht sogar als eine Form von finanzieller Nötigung.
Und auf gar keinen Fall zu viele wissenschaftliche Einzelheiten! Einfache Gegenüberstellung von Aufwand und Nutzen. Ruhm und Verdienste in nicht zu blendenden Farben gemalt! Doch wie so oft hatte sich auch hier wieder gezeigt, dass noch so clevere Regeln unter Menschen nicht dasselbe waren wie die Gesetzmäßigkeiten in den Naturwissenschaften.
Er trank eine Tasse grünen Tee ohne Zucker, während die Versammlung entschied. Wohlweislich keinen Alkohol – obwohl er in zahlreichen Flaschen und Variationen bereitstand –, weil einen das in den Augen von Alkoholikern leicht als Alkoholiker diskreditierte.
Nach diesem Fehlschlag hatte er drei Straßenzüge weiter im Old Barber zu Abend gegessen.
Etwas zu fett, etwas zu viel, etwas zu schlecht. Es gab in diesem Moloch von Stadt einfach kein gutes englisches Restaurant, wie er es während seines Studiums auf der Insel schätzen gelernt hatte.
Obwohl der Barber direkt aus Oxford auf den Kontinent herüber gekommen war, schienen die Zutaten mit der Überquerung des Ärmelkanals ihre chemische Beschaffenheit zu verändern.
Als er im Lokal an der U–Bahnstation ein letztes Glas Bier trank, um sein Völlegefühl loszuwerden, sprach ihn ein alter Bekannter an – zumindest glaubte Born, dass der andere sich noch gut genug an ihn erinnerte. Er hatte Wladimir auf einer Fachtagung kennen gelernt. Wladimir Karow gehörte zur russischen Delegation, Abteilung Genreproduktion. Die Russen waren vor allem daran interessiert, mit Biogenetik Geschäfte zu machen. Die Forschung selbst interessierte sie herzlich wenig. Der Mann in seiner Begleitung hatte ein südländisches Gesicht.
„Sind Sie nicht Karl?“, erkundigte sich Wladimir. „Sind Sie nicht der verrückte Biologieprofessor, der gar kein richtiger Professor ist?“
Obwohl Born den Kopf schüttelte, fuhr er ungerührt fort: „Ist es wahr, dass Sie Ihren Professorentitel wegen einer Frauengeschichte verloren haben?“
„Ich hab’ ihn nicht verloren, weil ich ihn gar nicht erst bekommen habe.“
„Sie hatte solche Titten“, schwärmte Wladimir und legte seine gewölbten Handflächen vor die Brust. „Sie war die schärfste Vorzimmersekretärin, die man je an irgendeiner Universität gesehen hat.
Sie konnte kaum aufrecht sitzen, weil sie wegen ihres Vorbaus immer auf die Schreibmaschine zu kippen drohte. Man muss sich das mal vorstellen“, sagte Wladimir. „Die Kleine streckt ihre Hände aus, um die Tasten anzuschlagen – und dann kippt ihr Körper wie in Zeitlupe nach vorn … Karl steht auf so was.“
„Sie haben Ihren Doktortitel wegen ihrer Titten verloren?“, fragte Wladimirs Begleiter. „Alle Achtung.“
„Sie hatte noch andere Vorzüge …“
„Okay, okay, Themawechsel“, schlug Wladimir vor. „Haben Sie schon von den Gerüchten gehört?“
„Welche Gerüchte? Nein.“
„Es war doch in allen Zeitungen. Das Fernsehen soll sogar eine Sondersendung darüber planen.“
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