Meine Schwester war die Einzige, die in diesem Haus geboren wurde. Wie seine Eltern ihn erzogen, erzog auch mein Vater uns nach dem konfuzianischen Wertesystem, welches fünf Grundbeziehungen (hoch und niedrig, Eltern und Kind, Mann und Frau, jüngerer und älterer Bruder, jüngerer und älterer Freund) enthält. Prägend ist hier die Achtung vor anderen Menschen, insbesondere vor Älteren. Hierzu gehört, dass Menschen, die älter sind als man selbst, niemals mit dem Namen angeredet werden. Ist man sich nicht sicher, ob er oder sie älter ist als man selbst, dann macht man diese zur älteren Person. Im Gegensatz zu Europa geringschätzt man sein Gegenüber, wenn man ihn jünger macht. Deswegen ist die Anrede „alter Opa“ keine Beleidigung in Asien, sondern ein Ausdruck von Respekt, da das Erreichen eines hohen Alters etwas Besonderes darstellt. Das Ansprechen eines Älteren mit dem Namen gilt als respektlos und unhöflich, daher haben auch jüngere Geschwister ältere Geschwister mit "älterer Bruder" oder "ältere Schwester" anzureden. Doch im modernen Asien kommt es schon mal vor, dass die Geschwister sich beim Namen ansprechen. Für einen Asiaten ist jedoch undenkbar die Mutter oder den Vater - wie es in Deutschland unter der antiautoritären Erziehung manchmal vorkommt - mit dem Namen anzureden.
Respekt zeigt man auch, in dem man Ältere zuerst grüßt. Kinder grüßen zumeist in der Form, in dem sie sagen: Tante, Onkel, Oma, Opa, Mama usw. Wenn sie nach Hause kommen, sagen sie z. B. "Mama, ich bin zurück." Begegnet wird diese Begrüßung mit "Schon zurück?" Die Begrüßung der Erwachsenen untereinander unterscheidet sich von der der Kinder. Oftmals hört man die Erwachsenen fragen: "Wohin gehst du?" Oder "Hast du schon gegessen?" Auf diese Fragen wird keine Auskunft erwartet. Es ist nicht so, dass der Fragende tatsächlich wissen will, wohin du gehst oder ob du schon gegessen hast, vielmehr handelt es sich hierbei um rhetorische Fragen, die als Gruß dienen.
Der Respekt Eltern gegenüber spielt in der asiatischen Gesellschaft eine wichtige Rolle. Um den Respekt nicht zu verlieren, spielten Eltern früher grundsätzlich nicht mit ihren Kindern. Würden sie dies tun, so würden sie sich auf die gleiche Ebene wie ihre Kinder begeben. Hingegen spielten ältere Geschwister mit ihren jüngeren Geschwistern. Der ältere Bruder hat ferner die Jüngeren vor anderen Kindern und Gefahren zu beschützen. Die ältere Schwester ersetzt teilweise die Mutter, indem sie die jüngeren Geschwister füttert oder badet. Die älteren Geschwister haben somit viel Verantwortung zu tragen. Aus diesem Grunde bekommen sie von den Eltern viel Macht übertragen, damit sie ihre Pflichten erfüllen können.
In diesem konfuzianischen Wertesystem mussten Kinder lernen gehorsam zu sein. Weil sie klein und daher unwissend sind, mussten sie lernen, sich nicht einzumischen, wenn Erwachsene sich unterhielten. Wenn Gäste im Haus waren, zogen sich die Kinder zurück.
Bei den westlichen Erziehungsgrundprinzipien wird Lob eingesetzt, um das Kind zu ermutigen, Leistung zu erbringen. Lob bekommen die Kinder in Asien, zumindest bei den noch etwas traditionell behafteten Eltern, nicht zu hören, denn das würde, ihrer Ansicht nach, den Charakter verderben und die Kinder ungehorsam machen. Stattdessen wird das Kind kritisiert und mit anderen verglichen, damit es sich seiner Situation bewusst wird. Dadurch soll sich das Kind ermutigt fühlen, den anderen „besseren“ Kindern nachzueifern. Liebe durften Eltern auch nicht zeigen. Wenn ein Kind sich geliebt fühlte, würde es die Zuneigung der Eltern ausnutzen und sich dementsprechend ungehorsam und unartig benehmen. Auch entschuldigten sich Eltern oder Erwachsene nie bei Kindern, auch wenn der Fehler auf deren Seite lag. Ob diese Erziehungsmethode etwas mit Konfuzius zu tun hat, mag ich zu bezweifeln. Doch in meiner Kindheit ärgerte ich mich maßlos darüber, dass ich ausgeschimpft wurde, obwohl mich keine Schuld traf. Um die andere Familie, deren Kind die Schuld trug, indirekt zu treffen, wurde ich ausgeschimpft. Das konnte ich nicht verstehen und empfand es als sehr ungerecht, deswegen protestierte ich, obwohl es nichts nützte.
Zusammen waren wir zu acht. Meine älteste Schwester und drei ältere Brüder starben bereits im Baby- oder Kleinkindalter. In einem Entwicklungsland wie Kambodscha war dies keine Überraschung. Es gab kaum eine Familie, die kein Kind im Kindesalter verlor. Obwohl es zu damaliger Zeit eine medizinische Versorgung gab, war die gute Schulmedizin, die in Kambodscha westliche Medizin genannt wurde, nur für die Reichen zugänglich. Arme Menschen konnten sich eine solche Medizin nicht leisten. Zur Behandlung von Krankheiten beschränkte man sich daher auf das Kratzen mit einer Münze auf dem Rücken und auf der Brust sowie auf die Kräutermedizin, die so bitter schmeckte, dass meine Eltern sie, zumindest mir, zwangseinflößen mussten, indem sie mich festhielten, mir die Nase zudrückten und mir die stundenlang gebraute Medizin in den nun geöffneten Mund gossen. Ähnlich wie das Kratzen mit einer Münze ist das Schröpfen. Dabei wurden rundliche kleine Gläser mit Feuer von innen erhitzt und rechts sowie links neben der Wirbelsäule angeordnet. Durch das Erhitzen wurde ein Unterdruck im Glas erzeugt, sodass sich diese am Rücken festsaugen konnten.
Neben dem medizinischen Aspekt waren auch die hygienischen Verhältnisse für die hohe Kindersterblichkeitsrate verantwortlich. Doch viele sahen die hohe Kindersterblichkeit nicht in den unzureichenden hygienischen Verhältnissen begründet. Vielmehr wurden Geister oder Götter für die Erkrankung und den Tod verantwortlich gemacht. Wenn eine Familie ein Kind verlor, glaubte diese, sie hätten die Geister bzw. Götter erzürnt, weil sie nicht genügend an sie gedacht hätten. Als Strafe für die Vernachlässigung würde die Familie mit Krankheit oder Tod eines Familienmitgliedes bestraft. Diese Strafe ließe sich - wenn überhaupt – nur umgehen, wenn man mit Hilfe eines Wahrsagers rechtzeitig herausfand, welchen Gott man erzürnt hatte und ihn mit Opfergaben um Entschuldigung bat.
Ein anderer Weg, um eine Bestrafung durch die Götter zu umgehen, war die Götter zu hintergehen. Dies geschah wie folgt: Vor den Augen der Götter werden die Kinder nach der Geburt an eine andere Familie weggegeben. Diese wiederum gab das Kind der eigenen Familie, die das Kind geboren hatte, zurück und bat diese das Kind für sich aufzuziehen. Das Kind, das jetzt von dessen leiblicher Familie aufgezogen wird, ist vor den Augen der Götter kein eigenes Kind, sondern nur ein Pflegekind. Es nennt daher die eigentlichen leiblichen Eltern nicht mehr Mama und Papa, sondern Tante und Onkel. Dadurch wird eine Distanz zwischen dem Kind und der leiblichen Familie erzeugt. Wenn die Götter eine Strafe gegen die Familie richten würden, dann könne diese das Kind nicht treffen. Offiziell ist es ja kein Familienmitglied. Auch meine Eltern wandten diesen Trick an, nachdem sie vier Kinder im Baby- bzw. Kindesalter verloren hatten. Das ist auch der Grund, warum meine Mutter für mich die „Tante“ und mein Vater der „Onkel“ war.
Eigentlich haben Götter und Geister, die nach dem verbreiteten Glauben meist Wälder und große hohe Bäume bewohnen, die Funktion, die Menschen zu beschützen. Doch auch Götter sind nur Menschen. Sie sind egoistisch und denken zuerst nur an sich selbst. Mit ihnen ist daher leider nicht zu scherzen. Jeder Schritt im Wald ist mit Bedacht zu setzen. Jedes Wort, das ausgesprochen wird, ist genau zu wählen. Ein falscher Tritt oder ein falsches Wort könnte einem das Leben kosten. Jede Handlung ist genau zu bedenken. So kommt es nicht selten vor, dass beim Straßenbau ein großer Baum im Weg steht. Da die Menschen aber glauben, dass solche Bäume von Göttern oder Geistern bewohnt sind, würde das Fällen des Baumes Selbstmord bedeuten. Deshalb werden die Bäume in solchen Situationen nicht gefällt, sondern die Straße wird um den Baum herum gebaut.
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