Danner versprach sich von dieser Befragung weitere wichtige Informationen, denn Katja war dem ominösen blonden Mann im Flur begegnet und würde sicher eine gute Beschreibung abgeben können. Auch sie bestätigte die schulterlangen, blond gelockten Haare. Sie war sich sicher, dass er eine Brille mit kreisrunden Gläsern getragen habe. An das Material und die Farbe der Fassung könne sie sich nicht erinnern. Weiter beschrieb sie den Mann als groß, schlank und durchtrainiert. Danner wollte eine genauere Angabe zur Größe haben, und erhielt als Antwort, dass sie die Größe auf ungefähr 1,90 Meter schätze. Bekleidet war er mit blauen Jeans und einfarbigem schwarzem T-Shirt. Und ja, sie sei bereit, gleich an einer Phantomzeichnung dieses Mannes mitzuwirken. Auch ihr kündigte Danner an, dass er sie demnächst im Studentenwohnheim besuchen werde, und sich in Sarahs Zimmer umsehen wolle. Danner fragte noch nach näheren Informationen über das Projekt, und auch von dieser Zeugin erhielt er die Information, dass Sarah einen etwas ängstlichen Eindruck gemacht habe. Den Grund dafür wusste sie allerdings nicht.
Als Katja Zeidler nichts mehr zu berichten hatte, wurde sie in das Büro des Spezialisten gebracht, der nach ihren Angaben am Computer ein Phantombild erstellen sollte.
Dann erschien Rainer Leitner, um seine Aussage zu Anne Petersen zu machen. Der Rentner, der angab, einundsiebzig Jahre alt zu sein, machte einen sehr besorgten Eindruck. Er beschrieb seine Nachbarin, die seines Wissens Informatik studiere, als überaus nett und hilfsbereit. Sie habe schon gelegentlich, wenn er sich nicht wohlfühlte, Besorgungen für ihn gemacht. Da er wisse, dass sie finanziell nicht besonders gut gestellt sei, habe er ihr angeboten, diese Gefälligkeiten zu entlohnen. Das habe sie strikt abgelehnt. Danner fragte interessiert, woher er die Information über ihre finanziellen Verhältnisse habe. Leitner antwortete, sie habe sich bei ihm erkundigt, ob es in der Gegend Verdienstmöglichkeiten als Aushilfsbedienung im Lokal, mit Babysitting oder Ähnlichem gebe. Daraus habe er die Schlussfolgerung über ihre finanzielle Situation gezogen. Leider habe er ihr nicht helfen können. Über Verwandte und Freunde könne er leider auch nichts sagen, außer dass es bei ihr immer sehr ruhig gewesen sei. Gefeiert habe sie auf jeden Fall nicht. »Ach ja«, sagte er am Ende, sie habe ihn auch gefragt, ob es in diesem Stadtteil von München eine Laienspielgruppe gebe. Sie würde sehr gerne Schauspielern und suche Anschluss an eine Gruppe. Auch mit Herrn Leitner vereinbarte Danner einen Besuch und bat ihn, den Schlüssel für Frau Petersens Apartment bereitzuhalten.
Ganz zum Schluss berichtete Vanessa Kohnen über ihre Beobachtungen im Zusammenhang mit Lisa Wanderers Verschwinden. Sie selbst und Lisa, Studentin der Kommunikationswissenschaften, wohnten mit einer weiteren Frau und einem Mann in einer Wohngemeinschaft in vier Zimmern mit Küche und Bad in der Siegfriedstraße. Am 9. Juli habe ein ihr unbekannter blonder junger Mann Lisa abgeholt. Sie wollte mit ihm nach Schäftlarn fahren, wo sie sich für ein interessantes Medienprojekt bewerben könne. Der junge Mann sei der Vertreter der zuständigen Agentur. Lisa habe zu ihr gesagt, dass der ja ganz seriös aussehe und sicher nichts Böses im Schilde führe, worauf sie ihr im Scherz versichert habe, im Bedarfsfall die Polizei zu ihrer Unterstützung zu rufen.
Sie erkannte ihn auf dem ihr vorgelegten Phantombild, das der Zeichner inzwischen nach den Angaben von Sarah Jacobs erstellt hatte, sofort wieder. Allerdings habe er etwas längere Haare gehabt, und das Gesicht sei schmaler gewesen, aber insgesamt sei er sehr gut getroffen.
Nach ihrem Wissen habe Lisa keine lebenden Verwandten, und derzeit auch keinen festen Freund. Gelegentlich habe sie für eine Werbeagentur als Model gejobbt. Nachdem Danner auch ihr einen Besuch in der Wohngemeinschaft angekündigt hatte, wurde sie verabschiedet.
»Nun, was haben Ihre Befragungen ergeben?«, fragte Clausen interessiert, als Danner nach Abschluss seiner Gespräche zu ihm ins Büro trat.
»Wie schon nach meiner ersten kurzen telefonischen Recherche vermutet, es gibt wirklich signifikante Übereinstimmungen in den Fällen. Vier Studentinnen, alle unter fünfundzwanzig, allerdings mit verschiedenen Studienfächern. Die Müller: Psychologie. Die Jacobs: Betriebswirtschaft. Die Petersen: Informatik. Die Wanderer: Kommunikationswissenschaft. Gemeinsam ist ihnen: Alle sind wohl eher einzelgängerisch, ohne lebende Eltern und sonstige Verwandte, so weit bekannt. Nein, ich muss mich korrigieren: Die Mutter von Sarah Jacobs ist dement und lebt in einem Pflegeheim. Zu ihrem von der Mutter geschiedenen Vater hat sie seit 10 Jahren keinen Kontakt mehr. Für Anne Petersen fehlt die Information über Eltern und Verwandte noch.«
Clausen blickte Danner Stirnrunzeln an. »Ich schätze Ihr außerordentliches Gedächtnis wirklich, aber auf diese Informationen müssen auch Andere zugreifen können. Bitte legen Sie eine entsprechende Datei an.«
Wie nicht anders zu erwarten, reagierte Danner nicht auf diese Anmerkung und setzte seine Zusammenfassung fort.
»Weiter ist den vier gemeinsam, dass sie nicht besonders gut mit finanziellen Mitteln ausgestattet sind. Zumindest sind alle sehr interessiert an Nebeneinkünften. Die Müller erledigt einen Nebenjob im Hotel. Die Jacobs hat Aushilfsjobs bei Messen. Die Petersen sucht gerade einen Nebenjob, und die Wanderer arbeitet nebenher als Model.« Danner überlegte einen Moment und ergänzte dann »Und bevor Sie mich noch mal ermahnen, diese Info nicht nur in meinem Kopf zu behalten: Ja, ich werde eine Datei anlegen.«
»Dann sind wir uns ja einig. Was haben Sie noch zu bieten?«
»Der Themenkomplex Medien, Film, Schauspiel oder etwas aus diesem Umfeld muss eine besondere Rolle spielen. Nicht nur, weil der große blonde mit der Nickelbrille als Medienagent auftrat und ein Casting veranstalten wollte. Die vermisste Lisa Wanderer studiert Kommunikationswissenschaft und arbeitet nebenher als Model, Anne Petersen spielt gern Theater und Sarah Jacobs macht irgendwelche Jobs bei Messen. Nur bei Laura Müller fehlt noch eine entsprechende Information, aber ich bin sicher, da werden wir auch noch was finden. Was mich stutzig macht: Alle schienen wohl etwas skeptisch zu sein, ob dieses Casting-Angebot seriös sei. Zumindest fielen solche Bemerkungen, wenn sie manchmal auch eher scherzhaft klangen. Vielleicht war es auch nur die Rechtfertigung der Zeugen vor sich selbst, dass sie mit einem solch vagen Anfangsverdacht zur Polizei gingen und Vermisstenanzeigen aufgaben.«
Clausen war sichtlich beeindruckt. »Das ist doch schon eine ganze Menge, was Sie da zusammengestellt haben. Und wenn wir dann das auch noch schön übersichtlich dokumentiert in einer Datei finden, dann können auch andere an dem einen oder anderen Detail arbeiten, ohne Sie vorher immer interviewen zu müssen.«
»Ich möchte nicht, dass irgendjemand etwas an diesem Fall bearbeitet, ohne dazu von mir beauftragt worden zu sein«, intervenierte Danner. »Da darf nicht gepfuscht werden. Ich will die Fäden in der Hand behalten und jederzeit den Überblick über das vollständige Geschehen haben.«
»Ja doch, es ist Ihr Fall, Sie entscheiden über das Vorgehen, Sie haben aber auch die Verantwortung. Und was ist Ihr Plan, wie wollen Sie weiter vorgehen?«
Nun war Danner wieder voll in seinem Element.
»Erstens: Ich möchte alles über diese vier Studentinnen wissen. Wie gestaltete sich ihr bisheriges Leben? Ich möchte eine endgültige Abklärung haben, ob es Verwandte gibt. Wer sind ihre Freunde und Freundinnen? Mit wem hatten oder haben sie Kontakte in sozialen Netzwerken, über welche Themen haben sie sich unterhalten? Welche Vorlieben haben sie in ihrer Freizeit? Zu diesen Fragen müssen Sie Mitarbeiter aus Ihrem Team einsetzen, Herr Clausen. Die sollen mir dann umgehend das Ergebnis ihrer Arbeit berichten. Wir brauchen auch noch möglichst aktuelle Porträtaufnahmen der Vermissten, auch von denen, deren Bilder wir jetzt schon haben.«
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