Für die Anschuldigungen der Klägerin gab es keine Augenzeugen. Gleichwohl billigten ihr die ermittelnden Beamten eine hohe Glaubwürdigkeit zu, da es in ihrem bisherigen Lebenslauf keinerlei Hinweise darauf gebe, dass sie zur Unwahrheit neige. Nur bei dem Vorfall am Schießstand war ein anderer Beamter anwesend, der zwar bestätigte, dass Danner hinter der Zeugin gestanden habe, ob er sie aber am Busen gefasst habe oder nicht, habe er nicht erkennen können.
Danner hingegen behauptete, die Klägerin habe sich mehrfach an ihn herangemacht und ihm zu verstehen gegeben, dass sie sich für eine gute Beurteilung nach dem Praktikum erkenntlich zeigen würde. Dabei habe sie zum Beispiel einmal ihre Finger in seinen Hosengürtel gesteckt, ein anderes Mal sei sie von hinten an seinen Stuhl herangetreten und habe sich so über ihn gebeugt, dass ihre Brustspitze in seinem Ohr kitzelte. Jedoch habe er dieses Ansinnen immer von sich gewiesen und klargemacht, dass sie eine ihrer tatsächlichen Leistung entsprechende Beurteilung bekäme und keine außergewöhnliche Behandlung. Ihre Anschuldigungen seien frei erfunden und wohl ihre Rache dafür, dass ihre Beurteilung tatsächlich schlecht ausgefallen sei.
Auch Danner konnte keinerlei Zeugen für seine Behauptungen anführen. Allerdings stellte ihm sein unmittelbarer Vorgesetzter, der Kriminaloberrat Curt Clausen, ein äußerst positives Zeugnis aus. Danner sei immer wegen seines kooperativen und freundlichen Verhaltens und seiner hervorragenden Zusammenarbeit bei allen Kolleginnen und Kollegen sehr beliebt gewesen. Außerdem zeichne er sich durch eine sehr gewählte Sprache aus. Es sei undenkbar, dass Danner einer Frau gegenüber geäußert haben solle, er sei »beherrsche alle Ficktechniken« und er könne es ihr »machen«. Das Dezernat für interne Ermittlungen hielt Danner dieses positive Zeugnis und seinen bisher untadeligen und ausgezeichneten Ruf als Ermittler zugute, gegen ihn spreche aber sein privater Lebenswandel. Über die Klägerin gebe es bisher aber keinerlei negative Zeugnisse, weshalb man hier, da Aussage gegen Aussage stünde, zugunsten der Klägerin entscheiden müsse. Allerdings schlug das Dezernat einen internen Vergleich vor, um ein formales Gerichtsverfahren mit all seinen negativen Auswirkungen auf das Ansehen der Polizei in der Öffentlichkeit zu vermeiden.
Der Vergleich war für Danner äußerst negativ: Er wurde vom Kriminaloberkommissar eine ganze Ebene tiefer zum Polizeihauptmeister bei der uniformierten Polizei degradiert. Die Beurteilung der Klägerin wurde um zwei Notenstufen angehoben. Es wurde vereinbart, dass beide Seiten über den Fall und seine Details schweigen würden. Sein Chef Clausen, der zu diesem Zeitpunkt gerade zum Kriminaldirektor befördert worden war, riet Danner, den Vergleich anzunehmen, da er in einem Prozess nur verlieren könne und dann aus dem Polizeidienst entlassen würde. Er werde sich aber intensiv bemühen, die Zeit der »Strafversetzung« für Danner zu minimieren und sich bemühen, ihn bei passender Gelegenheit wieder zum LKA zurückzuholen. Da der Rückzug Danners aus der Arbeit als Ermittler im LKA in der Öffentlichkeit nicht unbemerkt blieb, wurde dies mit gesundheitlichen Problemen des Beamten begründet. Es war interessant, wie schnell die Spekulationen über die Hintergründe von Danners Abschied aus dem Fokus der Medien und damit Danner selbst aus der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit verschwunden war.
Inzwischen, Danner war gerade mal zweiunddreißig Jahre alt, war fast ein Jahr vergangen, in dem Danner als Polizeihauptmeister in der Polizeiinspektion 13 innerlich zähneknirschend seinen Dienst tat. Die anfänglichen Anfeindungen oder spöttischen und sarkastischen Bemerkungen seiner Kollegen hatten sich im Laufe der Zeit gelegt, als sie gemerkt hatten, dass Danner sich bereitwillig in den Alltag der Polizeiinspektion integrierte und mit viel Teamgeist seine Aufgaben erfüllte. Privat führte er nun ein äußerst zurückgezogenes, einzelgängerisches Leben.
Vor zwei Wochen hatte sich nun eine ganz neue Situation ergeben, als die damalige Klägerin, inzwischen Kriminalkommissarin, ertappt wurde, dass sie einen Zeugen in einem Kriminalfall durch sexuelle Avancen zu einer Falschaussage bewegen wollte, die den Hauptverdächtigen unwiderlegbar belasten sollte. Im Rahmen der Ermittlungen stieß man auf den ein Jahr zurückliegenden Fall mit Danner. Die reuige Kriminalkommissarin wollte reinen Tisch machen und gestand, dass sie sich auch damals schon durch Einsatz ihres Körpers einen Vorteil verschaffen wollte. Ihre Anschuldigungen gegen Danner wären frei erfunden, er selbst habe die Wahrheit gesagt.
Es konnte nur noch wenige Tage dauern, bis die Degradierung des Achim Danner durch den Polizeipräsidenten rückgängig gemacht würde.
Eine nach der anderen waren die vier Personen, die die Vermisstenanzeigen aufgegeben hatten, am Vormittag im Büro erschienen, das Clausen im LKA für Danner hatte bereitstellen lassen. Danner hatte die Vier in der Reihenfolge des Anzeigeneingangs eingeladen.
Zuerst war Frau Wiemann aus der Agnes-Bernauer-Straße erschienen. Frau Wiemann war Mitte fünfzig. Sie vermietete ein möbliertes Zimmer mit Küchen- und Badbenutzung in ihrer Vierzimmerwohnung. Sie wurde zu Laura Müller befragt. Nein, erklärte sie auf Danners Frage nach Verwandten der Laura Müller, sie wisse nicht genau Bescheid, nur dass die Eltern wohl schon sehr früh verstorben seien. Von Geschwistern oder sonstigen Verwandten wisse sie nichts. Laura Müller sei zweiundzwanzig Jahre alt, wohne seit Semesterbeginn bei ihr, sie studiere Psychologie. In dieser Zeit sei niemand zu Besuch gekommen, weder Männer noch Frauen. Sie sei wohl eher Einzelgängerin gewesen. Sie habe ihr einen Nebenjob in einem Hotel in der Nähe vermittelt. Dort habe sie am Samstag und Sonntag vormittags als Hilfskraft am Frühstücksbuffet gearbeitet. Mit der früheren Adresse von Frau Müller könne sie dienen, das sei eine Anschrift in Berlin. Ob Frau Müller etwas Konkretes zu diesem Projekt in Schäftlarn gesagt habe, wollte Danner wissen. Nein, antwortete Frau Wiemann, ihr sei zunächst nur aufgefallen, dass Laura Müller zwar von einem interessanten Projekt gesprochen habe, aber auf sie doch einen eher skeptischen Eindruck gemacht habe. Sie habe Frau Müller daraufhin angesprochen, und die habe nur gesagt, dass dies ja sicher keine Falle eines Mädchenhändlerrings sei, aber wenn sie morgen nicht zurück wäre, könne Frau Wiemann ja ruhig die Polizei informieren, was sie dann ja auch getan habe. Danner wollte noch wissen, ob sie den Mann beschreiben könne, zu dem Laura in das Taxi gestiegen sei. Sehr viel habe sie nicht gesehen, als sie aus dem Fenster geblickt habe. Nur den Kopf durch die heruntergekurbelte Seitenscheibe. Das sei so ein Typ mit langen blonden Haaren gewesen, so wie Thomas Gottschalk, den sie sehr verehre. Auch eine Brille habe er getragen, ergänzte sie nach kurzem Nachdenken. Sie habe jedoch keine Erinnerung mehr daran, was für eine Brille das gewesen war.
Ein Foto von Laura Müller habe sie nicht, aber sie glaube, dass auf dem kleinen Schreibtisch in ihrem Zimmer ein Bild stünde, das Laura mit einigen anderen Personen zeige. Danner kündigte noch an, dass er sie in Kürze besuchen werde, um Laura Müllers Zimmer zu untersuchen, dann wurde sie verabschiedet.
Danach wurde die Studentin Katja Zeidler über das Verschwinden ihrer Zimmernachbarin Sarah Jacobs befragt. Sarah sei genauso alt wie sie, nämlich dreiundzwanzig Jahre. Sie studierten beide Betriebswirtschaft. Da sie beide unter chronischem Geldmangel litten, hatten sie auch schon gemeinsam bei Messen wie der »Heim und Handwerk« als Aushilfen gearbeitet.
Zu den Verwandtschaftsverhältnissen befragt, wusste Katja, dass die Mutter von Sarah zwischen fünfzig und sechzig Jahren alt sei und wegen einer schon sehr früh aufgetretenen Demenz in einem Pflegeheim lebe. Wo der von seiner Frau geschiedene Vater von Sarah lebe, wisse sie nicht. Sarah habe erwähnt, dass sie seit mehr als zehn Jahren, seit der Scheidung ihrer Eltern, nichts mehr von ihm gehört habe. Ein Bild von Sarah habe sie vorsorglich mitgebracht, da sie sich denken könne, dass das wichtig sei.
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