„Ich habe etwas gegen deine Übelkeit“, sagte James, der während des Laufens das Seil um meine Hände durchschnitt. Blutige Handgelenke kamen zum Vorschein, weswegen er sie mit gerunzelter Stirn betrachtete und drehte. „Und gegen das hier habe ich auch etwas … Ich werde mit Pattons reden. Diese Seile müssen abgeschafft werden.“
Meine Stimme war nicht mehr als ein Hauchen, als ich erschöpft sagte: „Danke … James.“
Er lächelte mich an und dann gingen wir weiter, vorbei an dem Mann, dem von Theo gerade das Leben genommen wurde.
James kniete sich seufzend neben ihn und öffnete die Brusttasche des Toten, als wäre es schon eine geübte Handlung. Er zog einen Zettel heraus und steckte ihn ein. Dann strich er ihm die Augen zu und flüsterte etwas, das ich aber nicht verstand.
„Hey, Annemarie“, sagte Theo zu mir und sah von dem Toten, der durch einen Kopfschuss starb, zu mir. „Regel Nummer eins ist das“ – Er klopfte sich auf den Helm, den er trug – „Diese Dinger sehen zwar scheußlich aus, sind aber echt nützlich.“
Major Pattons rief nach uns und John wandte sich an uns und legte seine Hand auf die Schulter von James, der noch die Hand des Toten hielt und weiterhin etwas vor sich hin flüsterte. „Komm, wir müssen gehen.“
James nickte nach einem ruhigen Moment und sah den Mann das letzte Mal an. Er machte mit seiner rechten Hand das Kreuz an seinem Kopf und da nn wurde mir klar, war er die ganze Zeit sprach. Er betete für ihn.
*
Während des ganzen Weges zu unserem Rastplatz, gelang es mir nicht, die momentane Situation zu realisieren. Mir fiel es schwer, mich auf den Weg zu konzentrieren, ich war erfüllt von Angst, das Einzige, dass mich beruhigte, war Katharina, die die ganze Zeit meine Hand hielt.
Mein Gehirn weigerte sich zu registrieren, dass wir Zeuge eines Mordes geworden waren und ich konnte nicht begreifen, wie grauenvoll all dies hier wirklich war. Ich wusste, ich würde niemals vergessen, was ich fühlte, als wir über das Schlachtfeld der toten Männer liefen, die für diesen Krieg starben. Der Nebel, der darüber schwebte, war, als würde er all die Seelen repräsentieren, die nun verlorengingen.
War es das, was Krieg wirklich tat? Er zerstörte Seelen, ließ Körper verwest auf dem Boden liegen?
War es das, was der Krieg mit uns anrichten würde?
Wir kamen an einer Wiese, hoch auf einem Berg an, wo sich die Soldaten die Rücksäcke von den Schultern rissen und sie zu Boden fallen ließen. Anscheinend begann hier unsere Rast. Ich hatte entsetzlichen Durst und mein Magen forderte trotz des Gesehenen, etwas zu Essen, außerdem machten meine Beine schlapp. So weite Strecken war ich nicht gewohnt, und die Vorstellung, welch langer Weg noch vor uns lag, ließ meine Kraft noch mehr absacken.
Theo und James, die schon die ganze letzte Zeit neben Katharina und mir liefen, klappten zwei Hocker auf, die sie aus ihren Rucksäcken zogen und stellten sie auf die Wiese. John setzte sich einfach zu Boden, genauso wie die meisten der Anderen.
„Setz dich“, bot James Katharina an, die verunsichert zu ihm aufsah, aber man konnte in ihrem Blick lesen, wie gerne sie das Angebot annehmen wollte. Sie sah zu mir und suchte die Bestätigung, dass es in Ordnung war, sich zu hinzusetzen, deswegen gab ich sie ihr mit einem sachten Nicken. James lächelte und hockte sich neben Katharina, die sich völlig erschöpft auf den Hocker fallen ließ.
Ich stand immer noch auf einem Fleck, schaute mich in der Gegend um, beobachtete, wie die vielen Männer es sich bequem machten, ihre Klappstühle aufbauten, Holz suchten, ihre Waffen nachluden, tranken und ihr Essen zubereiteten. Mein Magen knurrte wie verrückt, doch trotzdem suchten meine Augen stets nach Major Pattons. Über die ganze Strecke war er nicht mehr in meiner oder Katharinas Nähe und das war auch gut. Ich hatte unheimliche Angst vor ihm, weswegen ich hoffte, dass er uns weiterhin aus dem Weg gehen würde.
„Mein Gott, ich habe zwar seit Ewigkeiten nicht mehr so lang geschlafen wie letzte Nacht, aber“ – Theo ließ seinen Rücken knacksen, als er vor seinem Hocker stand – „Irgendwie tat mir das absolut nicht gut.“
Als er sich gerade hinsetzen wollte, unterbrach ihn James im gleichen Atemzug. „Theo, hast du kein Benehmen?“
Theo sieht ihn nur verdutzt an und hält seinen Hintern noch in der Luft.
„Lass Annemarie sitzen, sie ist sehr weit gelaufen.“
Mich überraschte James Aussage, weswegen ich ihn genauso verdutzt ansah.
„Aber ich bin auch weit gelaufen“, protestierte Theo. „Außerdem“ – Er stoppte, weil James ihn finster anstarrte, während er etwas aus seinem Rucksack kramte – „Ist ja schon gut.“ Theo richtete sich schließlich wieder auf und sah von mir zu dem hölzernen, kleinen Hocker…
„Bitteschön.“
„Ich kann stehen“, versuchte ich die Aufmerksamkeit von mir abzulenken, obwohl auch ich unbedingt sitzen wollte. Meine Fußsohlen stachen schrecklich. „Es ist okay für mich.“
„Nein, setz dich ruhig“, meinte Theo und ließ sich zu Boden plumpsen. „Ich wollte sowieso noch ein Nickerchen machen.“
Unsicher sah ich durch die Runde, sah zu Katharina, die einfach traurig zu Boden blickte, dann zu James, der Eier aus einer Box holte und dann zu John, der auf dem Rücken lag und einfach in den tristen Himmel über uns blickte. Ergeben seufzte ich. Ich brauchte diese Erholung einfach.
„Habt ihr Hunger?“, fragte uns James. „Wir haben zwar nicht viele Eier, aber es sollte für alle reichen.“
Katharina und ich nickten stumm und mein Magen knurrte prompt richtig laut. John, der etwas entfernt neben mir lag, richtete sich auf und holte eine Metallbox aus seiner Tasche, schmiss sie James zu, der sie auffing und auf den Boden stellte. Er drehte daran herum und es flammte auf, als er ein Streichholz über das herausströmende Gas hielt.
Als er eine kleine Metallpfanne aus seinem Rucksack holte und dort die Eier aufschlug, wurde mir bewusst, dass das kleine Feuer zum Braten dienen sollte.
„Wie alt seid ihr eigentlich?“, unterbrach James die Stille, während er die Pfanne über die kleine Flamme hielt. Man merkte ihm an, dass er nur Konversation machen wollten, um die Laune nicht auf den direkten Nullpunkt zu bringen. Ab und zu hörte ich Katharina schniefen und ich war mir sicher, ich war nicht die Einzige, die es hörte.
„Katharina, also … Katharina“, erklärte ich leise und spürte alle Blicke auf mir. „Sie ist zwölf. Ich bin Siebzehn.“
„Siebzehn“, wiederholte Theo nickend, als wäre er beeindruckt. „Das war mein bestes Jahr.“ Ich sah ihn an und hoffte, er würde gelassen weiterreden. „Das war das Jahr, bevor die ganze Scheiße hier für uns angefangen hat. Man, ich vermiss das. Das Essen in Amerika fehlt mir. Und die Mädchen. Verdammt nochmal, die Mädchen.“
„Du bist ein schamloser Knecht“, mahnte ihn James. „Wir sind nicht mehr nur unter Männern.“
„Na und?“ Theo zuckte resigniert mit den Achseln. „Ich habe lediglich gesagt, dass mir die Mädchen fehlen, mehr nicht. Nur mit John über meine Sehnsucht zu sprechen, wird auf Dauer echt öde.“
„Weil du nichts zu vermissen hast “, sprach John seit langem wieder ein paar Worte und setzte sich auf, legte seine Unterarme auf seine angezogenen Knie. „Von welchen Mädchen soll die Rede sein? Von der einen, die du mal hattest als du fünfzehn warst?“
James lachte rau und Theo verdrehte die Augen. „Ich hatte nicht nur eine als ich fünfzehn war, klar? Da waren noch viele andere, die ich sehr vermisse.“
„Ach?“
„Ja, Arschloch“, murmelte der vorlaute Blonde, legte sich beleidigt auf den Rücken und verschränkte die Arme. „Wenigstens vermiss ich überhaupt irgendwas.“
John lachte leise vor sich hin und sah auf das Gras, auf dem er saß. „Du armes Schwein.“
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