Wir fuhren schweigend nach Hause. Im Hotel fragte ich Loni, ob sie noch mit zu mir kommen wollte, um unter dem Sternenzelt noch etwas zu trinken. Ich wollte ungern allein sein. Zu sehr hatte mich die Geschichte des holländischen Malers berührt und aufgewühlt.
„Gerne“, sagte sie.
Kurz darauf saßen wir mit einer Flasche Chablis aus der Minibar nur ein paar Zentimeter oberhalb der Wasseroberfläche der Lagune auf der Terrasse meines Bungalows. Ich ergriff ihre Hand. Angesichts der unendlichen Zahl von Sternen über uns fragte ich sie, welche Bedeutung so eine menschliche Tragödie für das Universum haben könnte.
„In der hermetischen Philosophie gibt es die Theorie, dass das ganze Universum ein Traum Gottes ist. Wenn ER ewig und allumfassend ist, kann nur in seinen Träumen etwas Neues entstehen. Auch wir Menschen sind demnach seine Traumgeschöpfe. Unsere Aufgabe ist es, seine theoretisch vorhandenen Erfahrungen für ihn real zu erleben. Wir sind quasi alle Pfadfinder Gottes. Deshalb ist jede unserer Erfahrungen für das Universum bedeutsam. Auch die der Leiden des Holländers und seiner Frau“, erklärte sie mir. „Ich bin übrigens eine Buddhistin. Buddha war ein im größten Luxus aufgewachsener Prinz, dessen Eltern darauf achteten, dass er nur junge, schöne und gesunde Menschen um sich herum hatte. Bei einem heimlichen Spaziergang außerhalb seines Palastes begegnete er einem alten, einem kranken und einem sterbenden Menschen. Er war so entsetzt über ihre Leiden, welche eines Tages auch ihm widerfahren würden, dass sein ganzes Wesen den Grund seiner Existenz wissen wollte. Die meisten Menschen beginnen erst zu meditieren, wenn in ihrer Familie ein Unglück passiert. Manche, wenn sie selbst dem Tod nahe stehen. Ähnlich wie Buddha erkennen die meisten Suchenden erst durch Leid ihren Weg zum Glück. Das Leiden ist wie ein Schloss, für das der Schlüssel gefunden werden muss, der uns die Pforte zu einem besseren Verständnis öffnet. Buddha hat drei Arten von Leid unterschieden: Das körperliche, unmittelbare Leiden wie Kopfweh, Magenschmerzen usw. Dann das Leiden, das die Psyche betrifft, wie Sorgen, Angst vor drohenden Gefahren, Liebeskummer etc. Und das Leiden, das durch Phänomene entsteht, die nicht von Dauer sind. Die letzte Art von Leiden hat mit dem Haben und Behalten Wollen und der Vergänglichkeit zu tun. Die meisten Menschen vermeiden es, sich mit ihrer vergänglichen Wirklichkeit auseinander zu setzen. Sie tun alles, um die Illusion aufrecht zu erhalten, sie seien unsterblich. Sie machen sich vor, dass Menschen und Dinge festgehalten werden können. Was meinst du, wie lange es noch gedauert hätte, bis Beau ihrer überdrüssig geworden wäre? Der fehlende echte Tabak war das erste Indiz für seine keimende Unzufriedenheit. Bald hätte er angefangen, ihre Unzulänglichkeiten zu entdecken und versucht, sie zu ändern. Das hat nichts mit bedingungsloser Liebe zu tun, die den Geliebten genauso akzeptiert und liebt wie er ist.
Auch bei dem Holländer war es nur egoistische Liebe, die er für sie empfand. Diese Form der Liebe ist immer ein Machtspiel, ein Krieg. Zwischen dem Holländer und seiner Frau wurde er auf der psychischen Ebene ausgetragen. In Wirklichkeit liebte er nicht sie, sondern ein Ideal, das er in ihr entdeckt zu haben glaubte. Als seine Frau alterte und dick wurde, schwächte sich sein Wahn immer mehr ab. Seine Selbsttäuschung endete und ihr Zauber verflog. Resigniert und deprimiert erkannte er, wie sie wirklich war. Sein Ego war furchtbar verletzt, weil er sich so in ihr getäuscht hatte. Seine Leidenschaft erlosch und wurde zu Lethargie.“
Ich sah sie bewundernd an. Sie war eine sehr kluge Frau. Und sehr schön. In ihren blauen Augen spiegelte sich das Licht der Sterne und ihre gebräunte Haut schimmerte wie flüssiges Gold. Ich stellte mir kurz vor, wie wir uns ineinander verschlungen schwitzend und keuchend auf meinem Bett wälzten. Ich verwarf die Vorstellung sofort wieder. Unser Sex hätte den Zauber der Nacht zerstört. Mein Herz war berauscht von der überirdischen Schönheit des mit unzähligen Diamanten besetzten Nachthimmels, die sich in der spiegelglatten See der Lagune spiegelten. Wir blieben ohne uns zu berühren nebeneinander sitzen, tranken Wein und plauderten über unsere Ansichten vom Leben und sonstige Nebensächlichkeiten. Sie erzählte mir, dass sie in Montreal als wissenschaftliche Assistentin an der philosophischen Fakultät gearbeitet hatte. Eines Tages saß sie in ihrem Büro vor einem Stapel Bücher, die sie durcharbeiten sollte, und bekam Panik. Das konnte nicht ihr Lebensinhalt sein. Spontan buchte sie einen Flug nach Tahiti, das sie von früher gut kannte. Sie flog nach Moorea weiter und bewarb sich um die Stelle, die in dem Hotel gerade frei war. Jetzt war sie schon zwei Jahre hier und wollte nie mehr weg.
Ich war in Gedanken noch bei der Geschichte des Holländers und überhörte ihre kleine Nebenbemerkung über Tahiti. Stattdessen fragte ich sie, in welchem Verhältnis Sex und Liebe ihrer Meinung nach zueinander stünden.
„Für mich ist Liebe subjektiv und Sex objektiv. Beim Sex interessierst du dich für eine Frau oder einen Mann wie für ein Objekt. Wenn du das Ding einmal erforscht hast, dann bleibt nichts mehr davon übrig. Dann bist du bereit, zum nächsten Objekt weiter zu gehen. Ja, die Frau sieht wunderbar aus, aber wie lange kann sie so schön sein? Ein Objekt ist ein Objekt. Sie ist für dich keine Person. Sie ist nur ein schönes Ding. Du versuchst sie für deinen Lustgewinn auszunutzen. Du machst sie zu deinem Instrument. Früher oder später wird sich dein Interesse wie das eines Kindes an seinem Spielzeug verlieren.
Liebe bedeutet, dass du nicht an der Frau oder dem Mann als Objekt interessiert bist. Du bist nicht dazu da, um sie auszubeuten. Du bist nicht da, um etwas von ihr zu bekommen. Im Gegenteil, du bist voller Energie und du möchtest ihr davon abgeben.
Liebe gibt. Sex möchte nur erhalten.
Liebende helfen sich gegenseitig, mehr und mehr sie selbst zu werden. Sie helfen sich, ein authentisches Individuum zu werden und zentriert zu sein. Liebe ist Respekt, Ehrfurcht und Andacht. Sie ist keine Ausnutzung. Liebe versteht. Weil die Energie nicht mit der Ausbeutung eines Objekts beschäftigt ist, bleibt sie frei und ungebunden. Das verursacht die Verwandlung von Sex in Liebe.“
Sie sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht.
„Oh, so spät schon. Entschuldige, aber ich muss morgen zeitig aufstehen. Ich habe Frühdienst.“
Sie erhob sich, gab mir einen Abschiedskuss und lief über die Holzstege zu der Angestelltenunterkunft hinter der Rezeption. Ich ließ ihre Worte auf mich wirken. In der Theorie richtig und wunderschön. Aber in der Praxis sah es anders aus. Ich kuschelte mich in die Polster meines bequemen Rattansessels und betrachtete das Sternenmeer über mir, das den samtblauen Himmel der warmen Tropennacht wie mit Gold bestäubt hatte. Weiß die Erde irgendetwas davon, was auf jenen Sternen vor sich geht, die wie feurige Samen in den Himmel hinaus gestreut sind? So weit entfernt, dass wir nur das Licht einzelner erblicken, während der unzählige Rest in der unendlichen Weite des Alls verloren ist. Auch der Mensch weiß nichts davon, was in einem anderen Menschen vor sich geht. Wir sind weiter voneinander entfernt als diese Gestirne. Einsam stehen wir da, weil der Gedanke unerforschlich ist. Dauernd berühren wir andere, ohne sie durchdringen zu können. Wir strecken die Arme aus, ohne sie jedoch wirklich berühren zu können. Wir lieben Frauen, als ob wir mit ihnen verkettet wären. Ein quälendes Bedürfnis zueinander zu kommen peinigt uns, aber unsere Hingabe ist fruchtlos und unser Vertrauen vergeblich. Unsere Liebe ist schwach und unsere Zärtlichkeit flüchtig und eitel. Wenn wir uns nahe kommen, dann stoßen wir uns nur einer am anderen. Wenn ich einer Frau oder einem Freund mein Herz ausschütte, fühle ich mich so allein wie nie. Vor mir steht ein Mensch mit klaren Augen, doch die Seele hinter ihnen kenne ich nicht. Er hört mir zu, aber was denkt er? Vielleicht hasst er mich, verachtet mich, lacht mich aus, denkt über das nach, was ich sage, kritisiert mich, verspottet mich, verurteilt mich, hält mich für einen mittelmäßigen Menschen oder für einen Trottel. Wie soll ich wissen, was dieser Mensch denkt oder ob er mich liebt wie ich ihn liebe? Was geht in seinem Gehirn vor? Welch Rätsel ist dieser Gedanke, den wir nicht kennen. Den wir nicht leiten, nicht beherrschen und nicht entziffern können. Auch bei mir ist es so. Selbst wenn ich meine sämtlichen Tore öffne, in mein tiefstes Inneres dringt kein anderer Mensch. Niemand kann mich entschlüsseln, weil niemand mir ähnlich ist. Deshalb kann niemand den anderen begreifen. Das ganze Elend, die ganze Qual unserer Existenz kommt daher, dass wir immer allein sind. All unsere Bemühungen und Bestrebungen haben nur einen Zweck, dieser Einsamkeit zu entfliehen. Auch der Holländer versuchte mit seiner törichten Liebe, seine Einsamkeit zu bezwingen. Aber er blieb allein und wird immer allein bleiben. Seine Zuflucht sind die Musik und die nieder geschriebenen Gedanken anderer. Frauen machen uns noch mehr unsere Einsamkeit bewusst, weil sie uns mehr als die Männer die Illusion gegeben haben, nicht allein zu sein. Wenn wir uns verlieben, ist es, als wüchsen uns Flügel. Eine übermenschliche Glückseligkeit durchströmt uns. Dieses unendliche Glücksgefühl entsteht, weil man sich einbildet, nicht mehr allein zu sein. Aber die Frau ist die große Lüge in diesem Traum. Welche Seligkeit führt unseren Geist in die Irre und welche Illusion reißt uns mit sich. Sie und ich wollen gleich ein Wesen bilden, vom Ich zum Wir werden. Aber dieses Gleich kommt nie. Nachdem man Wochen, Monate oder Jahre darauf gewartet hat, ist man eines Tages einsamer als zuvor. Nach jedem Kuss, nach jedem Liebesakt wird die Einsamkeit größer. Sie ist furchtbar und bricht einem das Herz. Dann ist die Beziehung zu Ende. Die Frau, die einmal in unserem Leben für uns alles gewesen ist, erkennen wir eines Tages nicht mehr wieder. Dann begreifen wir, dass wir ihre innersten Gedanken niemals gekannt haben. Selbst wenn wir nach einer stürmischen und intensiven Liebesnacht glauben, in ihre Seele geblickt zu haben, zeigt uns ein Wort, nur ein einziges Wort, die Kluft, die uns trennt. Aber einen Abend mit einer Frau zu verbringen, die man liebt, glücklich allein durch das Gefühl ihrer Gegenwart, das ist doch das Schönste auf dieser Erde. Mehr dürfen wir nicht verlangen. Niemals werden zwei Wesen wirklich eins.
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