Denken bedeutet Tod. Zögern sie bei der Ausführung eines Befehls werden sie auf der Stelle wegen Befehlsverweigerung erschossen. Sie müssen die Befehle der Wachen wie eine Maschine auf Knopfdruck befolgen und reflexartig handeln. Das Denken wird ausgeschaltet und ihr Bewusstsein fällt vom Kopf zum Hara herunter. Nietzsche sagt: Lebe Gefährlich! Dann lebst du im Hier und Jetzt. Du wirst zum Sein. Deshalb übt der Krieg eine solche Faszination aus. Krieg und Sex sind die Hauptattraktionen der Menschen. Auch beim Sex kommt es vor, dass der Mensch sein Hara berührt. Das Bewusstsein wird im Sex nach unten gezogen. In einem tiefen sexuellen Orgasmus fällt man nach unten zum Hara. Der Kopf ist vergessen. Es ist in Wirklichkeit die Erfahrung des Haras, die den Sex so faszinierend macht. Aber für den modernen Menschen ist sogar Sex zu einer Hirnfunktion geworden. In der zweidimensionalen Welt des Denkens ist Sexualität eine Frage der Bilder. Deshalb gibt es so viel Pornographie. Der Mensch denkt über Sex nach und das ist absurd. Je weniger der Mensch in den Sex hinein gehen kann, desto mehr denkt er darüber nach. Desto mehr wird er zu einer langweiligen Routine. Man fühlt sich am Ende frustriert und betrogen, weil man nur das tierische Element des Sexes erfahren hat. Deshalb heißt es: Omne animale post coitum triste est – jedes Tier ist nach dem Sex traurig. Wenn Sex aber in der dreidimensionalen Welt des Handelns stattfindet, man sich auf Bewegungen und Berührungen konzentriert und das Bewusstsein nach unten fällt, wird das Hara berührt und man empfindet Seligkeit. Man ist bewusst, aber denkt nicht. Man IST! Bei vielen Völkern war die Vereinigung von Mann und Frau die Transzendenz zu einem Gott. Das ist der Augenblick der Meditation. Wenn Sex zur Meditation wird, erfährt man Glückseligkeit. Der Mensch hat im Kampf, in Duellen, in Kriegen immer nach dem höchsten Bewusstsein in der Gefahr gesucht. Im Angesicht des Todes wird das Denken ausgeschaltet. Plötzlich bricht ein Glücksgefühl aus, explodiert und rieselt durch den wohlig erschauernden Körper. Egal aus welchem Anlass das Hara berührt wird, man ist wieder verwurzelt wie als Neugeborenes. Es gibt keinen tieferen Sinn im Leben, als für Liebe und Selbsterfüllung zu leben. Wenn man für die Liebe und die Freude des Selbst lebt, dann werden diese Momente der Ekstase und des Frohsinns in der Seele aufgezeichnet. Was noch mehr Augenblicke des Glücks und der Freude erschafft. Der Haken an der Sache ist das Wörtchen „wenn“ …
Jeder Tag meiner Kindheit war ein Abenteuer. Die beiden Häuser meiner Eltern und Großeltern standen etwa vierzig Meter entfernt von einander auf unserem dreitausend Quadratmeter großen Grundstück, das auf der hinteren Seite durch eine lange Weißdornhecke von einem ausgedehnten Mischwald getrennt wurde. Es war leicht abschüssig und schmiegte sich terrassenförmig an einen bewaldeten Hang, an dessen Fuß sich ein kleiner Fluss durch eine liebliche Auenlandschaft schlängelte. Auf der anderen Seite des Tales standen die ersten Häuser einer der schönsten Städte des Ruhrgebiets, die wegen ihrer mittelalterlichen Altstadt mit vielen Fachwerkhäusern als Ausflugsziel sehr beliebt war. Ein staubiger, ungeteerter Weg führte von ihr hinunter ins Tal und über eine kleine Brücke steil zu unserem Anwesen hinauf. Diese exklusive, erhöhte Wohnlage gab mir das Gefühl, in einer Burg auf einem Berg zu leben. Meine beiden Spielkameraden und besten Freunde waren zwei Schäferhunde, mit denen ich den ganzen Tag durch den Wald streifte oder in den Auen des Flusses herumtollte. Ich brauchte keine Spielsachen. Mein phantasievoller und kreativer Großvater inspirierte mich ständig mit neuen Ideen. Er brachte mir bei, aus einem Haselnussstrauch Pfeil und Bogen zu schnitzen, aus Decken und Stöcken ein Indianerzelt zu errichten und mit dem Luftgewehr zu schießen. Der handwerklich sehr geschickte Mann zeigte mir, wie man eine Schaukel an einem Ast anbringt, ein Baumhaus konstruiert oder sich eine unterirdische Höhle baut und sie mit Farnblättern gegen Regen schützt. Zum Entsetzen meiner Mutter kletterte er mit mir in hohe Baumgipfel, um mir die aus Lehm und Zweigen kunstvoll konstruierten Nester der Elstern zu zeigen. Im Herbst kraxelten wir zum Ernten der Früchte in unseren Obstbäumen herum. Wenn nötig nahm er mich zum Austauschen von kaputten Dachziegeln mit auf die Dächer unserer Häuser.
Oft überraschte er mich mit spontanen Ausflügen zu besonderen Sehenswürdigkeiten oder Museen. So war es nicht wirklich etwas Besonderes, dass er sich eines Nachts in mein Zimmer schlich und mich sanft an der Schulter rüttelte. Verschlafen sah ich ihn an. Diesmal war er zu meinem Erstaunen mit einer grünen Cordhose, einem grünen Pullover, einer grünen Lodenjacke und einem Jägerhut bekleidet.
„Was hast du vor, Opa?“ fragte ich ihn verwundert.
„Steh auf und zieh dich an. Wir gehen mit Paul auf die Jagd“, sagte er leise und lächelte mich an. „Du bist jetzt fünf Jahre und alt genug.“
Paul war sein bester Freund. Im Zweiten Weltkrieg war er Leutnant in dem Bataillon meines Großvaters gewesen. Er war ein dünkelhafter Freiherr, der einen Gutshof mit großen Ländereien geerbt hatte. Wegen der gemeinsamen Kriegserlebnisse hatte er ein sehr inniges Verhältnis zu meinem Opa. Wenn sie sich trafen, lachten sie oft laut und herzhaft. Meistens aber steckten sie die Köpfe zusammen und redeten sehr leise mit angespannten Gesichtern. Paul hatte dann immer einen hämischen, brutalen Zug um den Mund. Ich mochte ihn, weil mein Opa ihn gern hatte. Begeistert sprang ich aus dem Bett. Er hatte gerade den Urinstinkt des Jägers in mir geweckt. Ich war ein Raubtier wie alle Menschen.
„Psst, sei leise. Deine Mutter muss unseren frühen Aufbruch nicht mitbekommen“, flüsterte er warnend. Aus meinem Schrank suchte er eine warme Winterbekleidung zusammen und half mir, mich anzuziehen. Wenig später fuhren wir mit seinem Motorrad zu dem Wald – und Sumpfgebiet, das das Jagdrevier seines Freundes war. Die schwere BMW meines Opas hatte einen Beiwagen. Trotz der beißenden Kälte der Herbstnacht war es für mich das Höchste, in dem Wägelchen zu sitzen und unter dem wolkenlosen Sternenhimmel durch die schlafende Landschaft zu brausen.
Paul erwartete uns mit seinen beiden Jagdhunden Harras und Greif, die ungeduldig an ihren Leinen zerrten. Er war ein rothaariger, kräftiger Mann von etwa fünfzig Jahren mit einem breiten Gesicht, das mich immer an einen Metzger erinnerte. Nachdem er uns herzlich begrüßt hatte, ging er zum Kofferraum seines Mercedes und holte zwei Gewehre, mehrere Schachteln mit Munition, ein Fernglas und zwei Jagdtaschen heraus. Eine Flinte, ein paar der Munitionsschachteln und eine Tasche gab er meinem Opa.
„Wir werden heute Enten jagen. Mein Sumpf ist voll von ihnen. Es wird ein Vergnügen werden, du wirst sehen“, sagte er zu ihm.
Im Schein des Mondes liefen wir durch seinen über hundert Jahre alten Wald, der aus mächtigen Bäumen und dichtem Unterholz bestand. Paul erklärte uns, dass seit Generationen viele Zugvögel hier Rast machten, weil ihnen das dichte Gehölz Schutz bot auf ihrer jährlichen Reise gen Süden. Nach einem anstrengenden Fußmarsch erreichten wir den Waldrand. Vor uns lag ein von einem Flüsschen durchzogenes Tal, an dessen Ufern sich saftige Wiesen ausbreiteten. Weiter unten verlor sich der Bach, der im oberen Teil des Tales noch kanalisiert dahin strömte, in einem weitem Sumpf und Moor. Wir liefen entlang des Flusslaufes, bis wir den Rand des Sumpfgebietes erreichten. Dort sah ich, dass aus dem dichten Schilf, das den Sumpf überall bedeckte, ein Weg herausgeschnitten worden war, der zu der Anlegestelle eines Kahns führte.
Читать дальше