„Der Sumpf hat sein eigenes Leben. Er hat seine festen Bewohner und seine Wandergäste, die hier gerne zu Besuch sind, weil sie reiche Beute finden. Er ist das ideale Biotop für seltene Lebewesen, die es sonst nirgendwo gibt“, sagte Paul mit gedämpfter Stimme. Ich saß auf der schmalen Bank seines Holzkahns und schmiegte mich eng an meinen neben mir sitzenden Opa, während sein Freund uns über das morastige Gewässer ruderte. Mir war unheimlich zumute. Die mysteriöse Wasserebene mit ihrem schlammigen Untergrund flößte mir Angst ein. Wir fuhren durch dichten Nebel, dessen Schwaden seltsame Phantasieungeheuer bildeten. Unbekannte Geräusche aus dem Schilf und das ständige leise Glucksen und Plätschern des Wassers verstärkten mein Unbehagen. Ich war heilfroh, als Paul den Kahn endlich an ein Ufer steuerte, anlegte und ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Auch die beiden Hunde, die sich während der Überfahrt flach an den Holzboden gepresst hatten, schienen erleichtert zu sein. Sie sprangen ans Ufer und rannten fröhlich bellend um uns herum. Wir liefen im Gänsemarsch durch das dichte Schilf, bis wir eine Lichtung erreichten, auf der eine kleine Holzhütte stand. Paul schob ein paar Holzscheite in den Eisenofen, der in der Mitte des kleinen Raumes stand und von dem ein langes Rohr zum Dach führte. Er entzündete die Holzstücke und die nasskalte Luft in der Hütte fing an, sich langsam zu erwärmen.
„Wir haben noch eine gute Stunde Zeit, bis die Sonne aufgeht und die Zugvögel aufbrechen. Also macht es euch bequem“, sagte Paul zu uns. Wir folgten seiner Aufforderung und legten uns auf die zusammengefügten Holzbretter, die an den vier Wänden der Hütte befestigt waren und als Bänke dienten. Ich dämmerte vor mich hin, als plötzlich ein Schrei ertönte, der mein Herz berührte. Anscheinend hatte der schwache Schein des anbrechenden Tages die ersten Vögel aufgeweckt.
„Kommt mit raus, es ist soweit“, sagte Paul. Die beiden Freunde nahmen ihre Waffen und wir traten vor die Hütte. Tatsächlich war der Himmel bleich geworden und ganze Schwärme von Wildenten flogen über das Firmament. In langen Ketten schwirrten sie durch die Luft. Ein Feuerstrahl blitzte neben mir auf. Paul hatte geschossen und die beiden Hunde stürmten davon. Auch mein Opa feuerte. Von nun an knallte es abwechselnd links oder rechts von mir, sobald über dem Schilf der Schatten eines über uns fliegenden Schwarmes erschien. Harras und Greif apportierten unaufhörlich blutüberströmte, gefiederte Körper. Wedelnd und außer Atem legten sie mir die abgeschossenen Enten zu Füßen, deren starre Körper ich gleichmäßig auf die beiden Jagdtaschen verteilte. Einige der Vögel lebten noch und sahen mich klagend an, bevor ihre Augen brachen. Schließlich stieg die Sonne über dem Sumpf empor und der Strom der abziehenden Vögel verebbte.
„Lass uns aufbrechen. Wir haben genug erbeutet“, sagte Paul und deutete auf die prall gefüllten Taschen, die neben mir am Boden standen.
Mein Opa nickte. Da tauchten am Himmel noch zwei Vögel auf, die mit weit vor gestrecktem Hals und ausgebreiteten Flügeln über uns dahin zogen. Mein Opa schoss und einer der beiden fiel ihm fast vor die Füße. Es war eine Krickente mit fein ziselierten, silbernen Bauchgefieder, die blutend und still vor ihm lag. Ich bewunderte ihre Schönheit, als in dem weiten Raum über uns eine Stimme erklang. Es war die Stimme ihres Gefährten, der verzweifelt nach ihr rief. Ein kurzer, herzzerreißender Schrei, der sich ständig wiederholte. Das kleine Tier, das seinem Schicksal bisher entronnen war, fing an, über uns zu kreisen. Mit klagenden Rufen suchte es seine tote Begleiterin, deren langsam erkaltenden Körper ich aufgehoben hatte und in den Händen hielt. Paul blieb von seinem Wehklagen völlig unberührt. Er hatte sein Gewehr angelegt, zielte und wartete darauf, dass der Vogel nahe genug heran kam.
„Du hast das Weibchen herunter geholt und das Männchen wird nicht von hier weichen“, sagte er zu meinem Opa. Tatsächlich zog es seine Kreise über uns und stieß dabei die ganze Zeit seine klagenden Laute aus. Mein Opa beobachtete es mit versteinerter Miene. Seine Kiefer mahlten. Mir liefen die Tränen über die Wangen. Nie wieder hat mir etwas so das Herz zerrissen, wie dieser ständige Schrei der Qual, dieser klagende Ruf der Verzweiflung des armen Vogels dort oben in den luftigen Höhen. Manchmal entfernte er sich etwas von unserem Standpunkt, als sei er sich des Gewehrlaufes bewusst, der ihm drohend folgte. Ich dachte hoffnungsvoll, er würde seinen Weg am blauen Himmel alleine fortsetzen. Doch er konnte sich nicht dazu entschließen und kam immer wieder zurück, um sein Weibchen zu suchen.
„Leg sie mal auf den Boden. Er wird dann schon näher kommen“, sagte Paul zu mir, ohne den Gewehrlauf sinken zu lassen und den Blick von dem über uns kreisenden und unaufhörlich klagenden Erpel zu nehmen. Ich tat, wie er mir befohlen hatte. Das Männchen erspähte endlich seine Gefährtin. Ohne sich um die Gefahr zu kümmern und verrückt in seiner Liebe flog es auf sie zu. Paul schoss. Es war, als hätte man eine Schnur zerschnitten, an der der Vogel gehangen hatte. Ich sah einen schwarzen Schatten vom Himmel herunter fallen und hörte das Aufschlagen seines kleinen Körpers im Schilf. Harras rannte los und legte das tote Tier neben seine Gefährtin. Mein Opa ging zu ihnen und steckte ihre beiden kalt und starr gewordenen Körper in seine Jagdtasche. Als wir nach Hause kamen, gingen wir in den Garten und er begrub sie nebeneinander unter einem Kirschbaum. Meine Oma hatte ihn von ihrer Küche aus beobachtet. Sie kam zu uns und fragte ihn, was er machte. Er erzählte ihr mit gesenktem Kopf die Geschichte.
Sie sah ihn schweigend eine Weile an. Ihre Augen schimmerten feucht. Ohne ein Wort zu sagen drehte sie sich um und ging in ihr Haus zurück. Als ich am Abend den Garten betrat, sah ich, dass ein Strauß Veilchen auf dem kleinen Grab blühte. Veilchen waren die Lieblingsblumen meiner Oma.
Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mit dem Tod aus Liebe konfrontiert wurde. Normalerweise ist der Tod weit weg und betrifft nur die anderen, denken wir. Auch ich gehörte sehr lange zu diesen Ignoranten der Endlichkeit unseres Seins. Bis mich eines Tages ohne Vorwarnung ein chronischer Husten befiel. Nach jedem Satz bekam ich einen Hustenanfall. Länger zu sprechen war unmöglich. Monatelang versuchte ich vergeblich, ihn mit alternativen Heilmethoden zu bekämpfen. Ich hatte keinen Appetit mehr und verlor kontinuierlich an Gewicht. Von Woche zu Woche wurde ich schwächer. Eines Tages bekam ich so heftige Zahnschmerzen, dass ich sofort einen Zahnarzt aufsuchte. Als ich mich in seinen Behandlungsstuhl setzte, sah er mich besorgt an.
„Wie sehen Sie denn aus. Ihre Haut ist ja Gelb-Grün. Sie müssen sich unbedingt von einem Arzt untersuchen lassen.“
Aber ich ignorierte seinen Rat. Ich misstraute den Ärzten der Schulmedizin. Die meisten von ihnen wollen nur Produkte der Pharmaindustrie verkaufen, die abscheuliche Nebenwirkungen haben. Also hustete und hungerte ich weiter. Bis ich an einem kalten Februarmorgen meine Mülltonnen heraus stellen wollte. Nur mühsam konnte ich sie hinter mir herziehen. Als ich sie endlich am Straßenrand platziert hatte, war ich in Schweiß gebadet und völlig kraftlos. Wie in Zeitlupe bewegte ich mich ins Haus zurück und legte mich erschöpft auf mein Bett. Nachdem ich mich etwas erholte hatte, stand ich auf und suchte mir aus dem Telefonbuch eine Ärztin heraus. Ich rief sie an und schilderte ihr meinen Zustand.
„Kommen Sie sofort vorbei. Das hört sich nicht gut an.“
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