Unten bellte Balu zweimal für „Besuch“ und nur Sekunden später wurde ein Auto vor dem Haus abgestellt. Walter öffnete im Vorbeigehen die Eingangstür und presste dann in der Küche den Kaffee ab. Zwei Tassen standen auf dem Tisch, als Jusuf freudig von Balu begrüßt wurde.
„Ei Walter – gute Morge!“
„Guten Morgen, Jusuf. Alles gut?“
Der Türke schaute angewidert Richtung Tür und schlang sich die Arme um den Oberkörper.
„Nix gut heute. Ist scheißenkalt da drauße. Hab isch müssen kratzen Scheibe. Aber bin isch hier jetzt.“
Walter musste lächeln. Er kannte Jusuf seit er vor drei Jahren den Job als Zeitungsausträger angenommen hatte. Jusuf brachte die Zeitungen von der Druckerei zu den Austrägern. Durchgefroren klammerte er sich an seine dampfende Kaffeetasse, während sie noch ein bisschen tratschten. Mit einem „Machst du gut heute, Walter“, machte er sich dann wieder auf den Weg. Noch vier weitere Austräger warteten auf ihre Zeitungen.
Walter genoss es zu so früher Stunde mit seinem Fahrrad durch Taldorf zu fahren. Zuerst hatte er seine Zeitungen in Alberskirch und Dürnast verteilt, war über die Höhe nach Wernsreute gefahren und war nun auf dem Heimweg. Es war vollkommen ruhig. Frühnebelschwaden krochen von den Wiesen in die Ortschaft und zeichneten alle Konturen weich. Balu trottete vergnügt voraus und wartete am nächsten Briefkasten.
„Hey Balu! Willst du dich in meinen Pferdeäpfeln wälzen? Die sind schön warm!“, höhnte eine Stimme hinter einer halb geöffneten Stalltür. Bimbo. Balu kannte den Haflinger Wallach seit er als Welpe nach Taldorf gekommen war. Und er mochte ihn nicht. Keines der Tiere im Dorf mochte Bimbo. Was die Menschen immer als freundliches Gewieher verstanden, waren in Wahrheit meist üble Beschimpfungen oder vulgäres Geplapper. „Friss Dreck!“, kläffte Balu schroff zurück und trottete weiter. „Hälst dich wohl für was Besseres, weil du frei rumlaufen darfst, hä?“, geiferte der Wallach. „Geh mal nach China! Da werden Tölen wie du in den Topf geschmissen!“
Doch Balu war schon außer Hörweite.
Walter pfiff leise die Titelmelodie einer alten TV-Serie. Noch fünf Zeitungen bis zum Feierabend und die letzten Häuser mochte er am liebsten. Es war das sogenannte „Hinterdorf“ von Taldorf mit dem Gasthof „Zur Traube“ als Mittelpunkt. Die Gäste kamen von weit her, doch sprachen sie nie von dem Lokal „Zur Traube“, sondern von seiner einzigartigen Wirtin, der Goschamarie. Arbeiter, Handwerker, Bauern kamen hierher, aber auch Polizisten, Politiker und Prominenz. Es war Goschamaries Art mit den Gästen umzugehen, die einen Besuch in der Traube zu einem unvergleichlichen Erlebnis machte.
Jetzt um kurz vor vier war bei der Goschamarie alles ruhig, was nicht selbstverständlich war. Walter hatte schon einige Male die Zeitung vor die Tür gelegt, während drinnen noch ordentlich gezecht wurde. Heute klemmte er sie zwischen Tür und Klinke und tastete dann vorsichtig den Fenstersims rechts neben der Tür ab. Auf einem Bierdeckel fand er das Schnapsglas, das für ihn bereit stand. Goschamaries Art „danke“ zu sagen.
Während er den eiskalten Schnaps nippte, schlenderte eine schlanke Tigerkatze unter einem im Hof abgestellten Heuwagen hervor. Balu begrüßte sie mit wedelnder Rute.
„Hi Kitty. Schon Mäuse erwischt?“ Kitty ließ sich gerne von Balu beschnüffeln und rieb ihren Kopf an seiner Flanke. „Nein. Bis vor einer halben Stunde war hier noch richtig was los. Da verziehen sich die kleinen Biester immer in die Scheune. Außerdem hab ich keinen Hunger - Marie hat mir Hackbraten rausgestellt. Willst du probieren?“ Balu folgte der Katze um den Heuwagen herum zum Napf und aß ein paar Happen. „Kommt ihr heute Abend zum Stammtisch?“, fragte Kitty. Die Zeitung, die Walter austrug, erschien sechsmal in der Woche, aber Stephan, ein Junge aus Taldorf, brauchte Geld, da er sich einen Roller kaufen wollte, und Walter hatte ihm den Samstag gern überlassen. So konnte er sich freitags mit seinen Freunden zum Stammtisch treffen ohne ständig auf die Uhr zu sehen. „Na klar kommen wir. Du kannst ja etwas früher rüber kommen und uns abholen!“ „Mach ich“, antwortete Kitty, stupste Balu in die Flanke und verschwand in Richtung Scheune.
Woher kommt eigentlich das Sprichwort „die verstehen sich wie Hund und Katze“, dachte sich Walter oft, wenn er die beiden Tiere beobachtete. Er stellte das leere Schnapsglas zurück und machte sich auf den Heimweg. Es war Freitag und er freute sich auf den Abend mit seinen Freunden.
2
Während Walter sich in seine warme Bettdecke hüllte, um noch ein paar Stunden zu schlafen, ging in einem Haus in Alberskirch das erste Licht an. Pfarrer Sailer setzte sich umständlich auf und hob die Beine vorsichtig mit den Händen aus dem Bett. Gerade in der kalten Jahreszeit quälte ihn seine Arthrose besonders. Er schob die Füße in die Filzpantoffeln, blieb aber noch ein paar Sekunden sitzen bis der Schmerz in den steifen Knien etwas nachließ. Er vermisste das Privileg der Jugend alles sofort, schnell und ohne Schmerzen tun zu können. Doch er beschwerte sich nicht. Immerhin hatte er einen schweren Herzinfarkt überlebt und konnte seit drei Jahren seinen Ruhestand genießen.
Noch im Nachthemd tapste er in die Küche und machte die Kaffeemaschine an. An den entkoffeinierten Kaffee hatte er sich erst gewöhnen müssen, doch nach einer Weile war die Erinnerung an echten Kaffee verblasst. Leise röchelnd spritzten die ersten Wassertropfen auf das Pulver, das sofort sein wundervolles Aroma verströmte. An der Tür zum Garten war ein leises Kratzen zu hören. Der Pfarrer öffnete die Tür einen Spalt und ein beleibter rothaariger Kater trappelte schnurstracks zu seinem Fressnapf.
„Guten Morgen, Eglon! Dein Futter kommt gleich.“
Eglon lebte seit zwei Jahren bei Pfarrer Sailer. Er war im Nachbardorf Wernsreute mit fünf anderen Kätzchen zur Welt gekommen und als er etwas größer war, wurde er an Pfarrer Sailer verschenkt, der gerade eine neue Katze suchte. Er war damals schon ein Pummelchen gewesen und so hatte ihn der Pfarrer nach einem Moabiterkönig aus der Bibel benannt, der dort als „sehr dicker Mann“ beschrieben wurde. Als er endlich sein Futter bekam, machte sich der Kater sofort darüber her, als hätte er seit Tagen nichts mehr bekommen.
Pfarrer Sailer schaute Eglon kurz beim Fressen zu, wandte sich dann aber seinem eigentlichen Vorhaben zu. Auf dem Küchentisch lag ein Stapel alter Bücher. Sie waren der Grund, warum Pfarrer Sailer so früh wach war.
Ein Bekannter hatte das alte Arzthaus in Dürnast gekauft, und die schweren, in Leder gebundenen Bücher in einem Karton auf dem Dachboden entdeckt. Jeder wusste, wie sehr sich Pfarrer Sailer für die Geschichte und Geschichten der Region interessierte, darum hatte der Bekannte ihm diesen historischen Schatz gerne ausgeliehen.
Er konnte es kaum erwarten in ihnen zu stöbern. Was würde er alles entdecken?
Die Bücher waren in ordentlicher Schrift von Hand geschrieben. Sie enthielten die Aufzeichnungen von insgesamt drei Taldorfer Ärzten, beginnend im Jahr 1803. Damals gab es noch keine Patientenakten, weshalb die Einträge nicht alphabetisch sortiert waren, sondern nach Datum. Er schlug das erste Buch auf und fuhr liebevoll mit der Hand über die eng beschriebene Seite. Der erste Eintrag stammte vom sechsten Juni 1803, einem Montag. „H. Wachter mit Zahnweh. Eitrigen Zahn entfernt. Kamillenumschläge angeraten.“ Pfarrer Sailer wollte sich gar nicht vorstellen, wie das Zähne ziehen damals abgelaufen war. Ein unbequemer Stuhl, eine rostige Zange, keine Betäubung – „... und jetzt schön den Mund auflassen!“.
Er schüttelte den Kopf, um das grausame Bild zu vertreiben und goss Kaffee in seine Lieblingstasse, dazu etwas Milch, ein Löffel Zucker. Er blätterte einige Seiten weiter, fand aber nichts Außergewöhnliches. Zahnbehandlungen tauchten fast täglich auf, Bauchweh bei Kindern, kleinere Verletzungen bei den Arbeitern. Auch Ausschläge und eitrige Wunden waren an der Tagesordnung.
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