Das gesamte Geschehen der vergangenen Stunden war ohnehin schon ein deftiger Schock gewesen. Zuerst der seltsame Fund zweier Eisleichen, der ihn wieder zu niedrigsten Hilfstätigkeiten degradierte, dann der Unfall mit der außer Kontrolle geratenen Bergbahn mit der in die Talstation gekrachten Gondel und in direkter Folge die explodierte Trafostation samt dem mehr oder minder großen Großbrand. Lag es daran, dass er plötzlich Gespenster sah? Aber reine Hirngespinste waren die Bewegungen gerade eben irgendwie doch nicht, dafür waren sie wiederum einfach ein Stück zu real.
Nachdem er schließlich losgefahren war, schaute er nach den ersten Kurven nochmals über die Schulter zu seinen beiden stillen Mitfahrern. Da die Plastikfolie durch die Kurvenfahrt offenbar wieder von ihren Köpfen weggerutscht war, sah er, dass die auf der Beifahrerseite liegende Eisleiche plötzlich mit den Augenlidern blinzelte. Als er bereits an der Dorfgrenze angekommen war, schaute er sich erneut kurz um und bemerkte, dass eine Hand eine kleine zuckende Bewegung machte, gerade so, als würde sich eine Raupe in ihrem Kokon gerade auf’s Ausschlüpfen vorbereiten. Nachdem er sowohl das krächzende Radio als auch das Gebläse ganz ausgeschaltet hatte, glaubte er sogar ein leises, ruckweises Schnaufen hören zu können. Jeweils in zwei kleinen Ruckerln ein-, und dann wieder in zwei leichten Ruckerln ausatmend, als müsste dabei ein leichter Widerstand überwunden werden.
Dass es Ludwig bei diesen Beobachtungen gleichzeitig heiß und kalt überkam, wäre noch eine massive Untertreibung gewesen und damit seiner Gefühlslage in keinster Weise gerecht geworden. Zum einen waren seine Beobachtungen oder vielleicht auch nur eingebildeten Beobachtungen absolut schaurig, zugleich fand er die Reaktionen aber auch aufs Höchste spannend. Die Situation kam ihm wie eine wilde Mischung der wenigen Horror-Filme, die er kannte vor. Gleichzeitig wuchs in ihm das Bedürfnis, doch irgendetwas für die offenbar auf etwas bizarre Weise erwachenden Gletscheropfer tun zu müssen. Nach den ersten, eher gruseligen Anwandlungen gewann in ihm der Helferwille die Überhand und so fing er maschinengleich an, mögliche Rettungsszenarien im Geiste durchzuspielen.
Die erste Möglichkeit bestand noch immer darin, dass diese ganzen Reaktionen ihm nur ein Scheinleben vorgaukelten, das vielleicht von ihrem doch recht dramatischen Abtransport herrührte. Vielleicht würde es in wenigen Minuten wieder genauso abrupt enden wie es begonnen hatte. Vor längerer Zeit hatte Ludwig eine leicht bizarre Wissenschaftssendung gesehen, die sich mit sogenannten „lebenden Leichen“ befasste und in der die chemischen Verdauungs- und Verrottungsprozesse als Auslöser für Leichenbewegungen entlarvt worden waren. Das passte zwar nicht ganz zur frostigen Umgebung eines Gletschers, aber vielleicht hatte der spektakuläre „Abflug“ aus der Seilbahnkabine irgendetwas dieser Art zumindest vorübergehend bei den Opfern in Bewegung gesetzt. In diesem Fall wäre der Friedhof sicherlich weiterhin das am besten geeignete Fahrtziel.
Sollte sich die Kurzlebigkeit der Phänomene aber nicht bestätigen und die beiden Männer gegen jede Wahrscheinlichkeit tatsächlich längerfristig zu neuem Leben gekommen sein, wären alle denkbaren offiziellen Stellen für die Wiederbelebten sicher ein enormer Schock und würde sie sicher permanentem Stress aussetzen. Was müsste nicht alles untersucht und ermittelt werden! Die Männer wären die lebende Mega-Sensation schlechthin: Ein Leben unter dem Brennglas der Wissenschaft und ständig im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu stehen, wäre kein auch nur ansatzweise erstrebenswertes Leben. Und das nach dem Schock einer solch spektakulären und unfreiwilligen Wiederbelebung.
Als Ludwig von einem der Hinterbänkler die ersten Laute vernahm, die ihn an ein leicht vernebeltes, ersticktes „koit“ und drei Kurven später „Wo’ sama?“ erinnerten, sah er sich durch die Kraft des Faktischen dazu gezwungen, die erste Option zur Seite zu legen. So war nun also guter Rat teuer und alle möglichen Rettungsszenarien liefen vor seinem inneren Auge ab. Etwa zur Polizei, deren sicher hochinteressierte Gerichtsmedizin die Lage für die Burschen vermutlich kaum wirklich entspannen konnte? Oder zur dörflichen Pflegestation? Oder doch besser ins Tal hinunter ins Krankenhaus? Die beiden ehemaligen Eisleichen konnten sicherlich keine aktuell gültigen Krankenversicherungskarten oder andere Ausweise vorlegen. Damit steckten sie sicher rasch in einer massiven Klemme!
Alle weiteren Gedankenspiele liefen für die betroffenen Wiedergeborenen auf ein recht drastisches Wiedereingliederungsprogramm hinaus, auf das alle vorstellbaren Institutionen sicherlich nicht wirklich gut vorbereitet waren. Letztlich kam Ludwig der beinahe naheliegendste Gedanke an eine ihrer beiden derzeit leerstehenden Ferienwohnungen.
Dafür müsste er lediglich Margret in sein Vorhaben einweihen, von der er wusste, dass sie nicht ausgesprochen überängstlich war. Ob sie aber derart abenteuerlich wiederbelebten Menschen, die vielleicht nicht ausgesprochen lebensfähig waren, Asyl gewähren würde, oder ob sie nicht vielmehr sofort eisern darauf beharren würde, dass Ludwig sie auf der Stelle doch ins Spital fahren musste, das konnte Ludwig nur herausfinden, indem er Margret behutsam in seine ausgesprochen abenteuerliche Idee einweihte.
Ihre zwei netten Ferienwohnungen im Untergeschoss verfügten jeweils über eine großzügige Terrasse. Aufgrund der Hanglage des Hauses hatten die Wohnungen eine wunderbare Aussicht über das gesamte Tal. Direkt daneben lag die in den Hang gebaute Doppelgarage. Komfortabler ging es kaum! Da die Appartements unter der Hauptwohnung lagen, konnte Margret sie manchmal erst vermieten, wenn das restliche Dorf schon nahezu ausgebucht war. Die immer anspruchsvolleren Gäste wollten im Urlaub eben ihre Ruhe, weshalb über ihren Köpfen selbstverständlich niemand „herumtrampeln“ sollte. Gleichzeitig musste man vom Balkon aus natürlich eine grandiose Bergsicht haben. Dennoch hatten sie mittlerweile viele Stammgäste, denn die Appartements der Koflers zählten zu den wenigen Wohnungen in Nikolsdorf, von denen man die Bergwelt bestaunen konnte, ohne die belebte Hauptstraße irgendwo vor der Nase zu haben. Vom vermeintlichen Kindergeschrei oder Getrampel aus der Hauptwohnung war in ihrem Neubau ohnehin fast nichts zu hören, da moderne Trittschalldämmung mittlerweile selbst im Kostnertal seinen hörbaren beziehungsweise eben nicht-hörbaren Einzug gehalten hatte. Im Umkehrschluss wiederum bedeutete dies, dass über die nächsten Wochen für die unfreiwilligen Neubürger ein unauffälliges Quartier ohne Meldepflicht gefunden war. Mit einem flotten Wendemanöver, das einer der Mitreisenden mit einem harschen „A“ kommentierte, ging es also wieder zurück Richtung Nikolsdorf und nicht den Weg hinunter zum Spital, was dem Weg entsprach, den Ludwig vermutlich unbewusst nach den ersten Lebenszeichen aus dem Kofferraum eingeschlagen hatte.
Zuhause angekommen parkte Ludwig möglichst nah am Eingang der Ferienwohnungen. Während die beiden Männer nun offensichtlich wieder tief schlafend im Kombi lagen, sprang Ludwig kurz hinauf in die Wohnung zu Margret. Zuerst einmal war Sie sehr froh, ihn wieder gesund und munter zu sehen. Sein Anruf hatte sie zwar ein wenig beruhigt, im allgemeinen Durcheinander hätte ihm aber anschließend immer noch etwas zustoßen können. Eilig berichtete er Margret von seinen exotischen lebendigen „Mitbringseln“, wobei er versuchte Margret möglichst wenig zu erschrecken. Wenn er die unterkühlten, ehemaligen Eismänner lebend auch nur sehr kurz erlebt hatte, waren sie ihm dabei wirklich nicht annähernd wie Frankensteins Geschöpfe vorgekommen. Auf Ludwig machten sie eher einen relativ normalen Eindruck, was bei stark unterkühlten und geschwächten Bergsteigern auch immer normal war. Ohne allzu genau auf die Begleitumstände am Fundort einzugehen, berichtete Ludwig, dass sich die beiden Wanderer offenbar sehr lange im Gletscher aufgehalten hatten und dabei nahezu erfroren wären, was ja im Kern schon irgendwie, zumindest ein bisschen, stimmte. Zu allem Unglück hätten sie sich während ihrer Rettung in der Nähe der defekten Trafostation noch ein paar leichtere Verbrennungen zugezogen. Trotz ihrer starken Unterkühlung seien sie offenbar nicht wesentlich verletzt, sonst hätte er sie selbstverständlich sofort ins Spital gebracht. Außer reichlich Schlaf benötigten sie momentan einfach nur gleichmäßige Wärme, frische Kleidung und, wenn sie schließlich aufwachen würden, etwas kräftigendes zu essen.
Читать дальше