Eine gute Viertelstunde zuvor war Ludwig telefonisch zum Abtransport der Eisleichen abkommandiert worden. Aufgrund der großen Ladefläche seines Kombis wollte er die angekündigten Leichen praktischerweise in einem Rutsch zum Friedhof transportieren. In seinem Auto hatte er deshalb bereits die Rückbank umgeklappt und wartete nun auf dem Parkplatz fünfzig Meter neben der Talstation auf die kalte Fracht. Damit sich Margret daheim nicht unnötig Sorgen machte, rief er sie noch kurz an. Er konnte sie, die von den chaotischen Vorfällen noch kaum etwas mitbekommen hatte, ein wenig beruhigen, indem er ihr in kürze über die Geschehnisse berichtete. „I muss nur no auf a Fuhre woarten, die I no wegfahrn sod. Aber auf’d Brotzeit werd I scho wiada dahoam sein!“ verabschiedete er sich von ihr.
Da Ludwig während des Wartens der Gedanke kam, dass Eisleichen vermutlich eine nicht geringe Menge an Wasser im Kofferraum hinterlassen könnten, machte er noch einen kurzen Abstecher ins Lager des Gemeindebauhofes und organisierte dort eine große Folie, mit der er den Kofferraumboden wannenartig doppelt auslegte.
Als er wieder auf den Parkplatz vor der Talstation einbog, sah er, dass die benachbarte Trafostation lichterloh brannte und sich in mehreren Stichflammen gerade vollends auflöste.
Zwei junge Burschen, die mit ihren BMX-Rädern am Parkplatz standen, berichteten ihm brandaktuell von dem sensationellen Crash der Bergbahn. Ebenso schilderten sie ihm, dass dabei zwei komische Typen oder Puppen aus der Talstation hinüber auf den Hackschnitzelhaufen geflogen seien.
Kurz bevor die erste, mit den Gletscheropfern besetzte Gondel in die Talstation einfuhr, besser gesagt einraste, fand ein ausgewachsener Blitz seinen, von einem Knall begleiteten Weg ins Motorenhaus am Ende der Talstation.
„Als hätt‘s an Gewehrknall direkt am Ohr gmacht“, wurde dieser Moment später vom Maschinisten beschrieben, der zum Zeitpunkt des Unfalls am Bedienpult im Kommandoraum stand. Der Einschlag hatte ihn einige Meter durch die glücklicherweise offenstehende Tür aus dem Steuerhaus auf die Wiese katapultiert.
Außer einigen ordentlichen Prellungen, einer leichten Gehirnerschütterung und einem leichten Knalltrauma hatte er glücklicherweise keine Schäden davongetragen. Der behandelnde Arzt im Spital meinte später zu ihm: „Wenn die Tür zum Leitstand nicht gerade offen gestanden wäre, hätten ihre Verletzungen sicherlich deutlich ernsthafter ausgesehen!“
Nach den Beschreibungen der Ersthelfer über den vermutlichen Hergang war er auf diese weise Einsicht allerdings schon deutlich früher selbst gekommen.
Gerade als die erste Gondel mit den Eismännern in rekordverdächtiger Fahrt in der Talstation angelangt war, griff fast gleichzeitig mit dem Blitz das Bremssystem wieder abrupt.
Der Trägheit der Masse folgend wurden die drei Gondeln deshalb in eine ruckartige Wippbewegung versetzt, die sie vereinzelt sogar über das Förderseil hochschwingen ließen - je nach ihrem Abstand zum nächsten Tragmasten. Unglücklicherweise traf die einzige mit Menschen besetzte Gondel in der Talstation dabei einen Querträger aus Stahl, was vor allem für die Gondel weniger zuträglich ausging. Sie riss dabei an der Außenseite vollständig auf und die beiden Insassen, oder besser Stehgäste, wurden unsanft hinausgeschleudert.
In hohem Bogen katapultierte es sie aus dem offenen Teil der Talstation in Richtung der Parkplätze. Just in dem Moment, als die beiden nicht offiziell gemeldeten Passagiere den äußerst ungewöhnlichen Ausstieg aus der ehemals intakten Gondel nahmen, zischte vom Motorenraum der Talstation ein riesiger Lichtbogen durch die Luft hinüber zur unweit gelegenen Trafostation.
Die beiden nun fliegenden Mitfahrer kamen dem Lichtbogen dabei bedrohlich nah, hatten aber gleichzeitig wiederum gehöriges Glück, da sie in dem etwa drei bis vier Meter hohen Hackschnitzelhaufen am Rand des Parkplatzes landeten, der hier vor zwei Tagen vom örtlichen Bauunternehmer für den Abschluss der Wegsanierung abgeladen worden war.
Für das gesamte Gebirgstal bewirkte diese kurzzeitige massive Überspannung einen zwanzigstündigen vollständigen Stromausfall, da neben der Talstation, deren Motorraum bald in lodernden Flammen stand, ebenfalls das benachbarte Trafohäuschen deutlich in Mitleidenschaft gezogen wurde und nun munter brannte. „Das alles is grad erst passiert!“, berichteten die BMX-Burschen buchstäblich brandaktuell.
„Oh weh, sonst is no koaner verletzt?“ fragte Ludwig besorgt nach. „Den Maschinisten in der Talstation hat’s dabei aus dem Kontrollraum geschmissen, aber is nach a poar Minuten von alloings wieder aufgstanden.“ erläuterten sie.
„Um die beiden ‚Puppen‘ derf I mi jetzt kümmern!“, erklärte Ludwig trotz des sie umgebenden Chaos erstaunlich gelassen. Die Jungs schickte er weiter weg vom Ort des Geschehens, da sich vom Dorf her bereits akustisch ein größeres Aufgebot an Feuerwehren und Polizeiautos ankündigte. „Hier wird’s sicher glei recht wild zugehn. Schauts lieber zu, dass ihr auf‘d andre Straßenseite und den Hang naufkommts. Sonst gibt’s glei ghörigen Ärger mit der Polizei und der Feuerwehr!“
Einer der Burschen meinte zwar, dass sein Vater und sein Onkel bei der Feuerwehr wären, und sie deshalb weiter ganz vorn zuschauen dürften, was Ludwig aber aus Sorge um ihre Sicherheit nicht als Ausrede gelten ließ. Kaum hatten die Burschen ihre Bikes weggeschoben, rauschten auch schon das erste Polizeiauto und der Feuerwehrzug aufs Gelände.
Die nächsten Stunden waren geprägt von intensiven Löscharbeiten der Feuerwehren - zusätzlich waren die Wehren aus drei Nachbardörfern mit schwerem technischen Gerät ausgerückt - um anschließend möglichst rasch den Wiederaufbau der Stromversorgung sicherstellen zu können. Die Trafostation galt es dabei mit äußerster Vorsicht abzulöschen, da anfangs noch nicht auszuschließen war, ob sich dort nicht noch stromführende Teile befanden.
Um die beiden frischen Leichen hingegen kümmerte sich nun sonst niemand anderes mehr. Von ihnen wusste ohnehin nur der fleißige Wegetrupp und der zum Abtransport abkommandierte Junglehrer. Optisch erregten die Eisleichen auf dem dunkelbraunen Hackschnitzelhaufen kein großes Aufsehen, nicht zuletzt wegen ihrer ältlichen, in dunklen Grau-, Grün- und Brauntönen gehaltenen verwitterten Kleidung.
Zuerst musste sich Ludwig überwinden, um die festen, aber schon deutlich angetauten Körper vom Hügel herunterzuziehen und auf die ebene Ladefläche seines Kombis abwechselnd hineinzuschieben und von der hinteren geöffneten Seitentür aus hereinzuziehen. Gleichzeitig überlagerte seit dem ominösen Blitzeinschlag ein in der Luft hängender Schmorgeruch alles und jeden.
Von den Eisleichen selbst ging momentan noch kein wirklich wahrnehmbarer Eigengeruch aus. Der würde aber bald folgen, sobald sie mehr und mehr auftauten. Neben den bereits klatschnassen und leicht modrig riechenden Jacken und Hosen der beiden Ice-Ager war eine leichte Spur von den Brand- und Schmorspuren angesengten Fleisches wahrnehmbar, der sich allerdings mit dem Hackschnitzeldampf und den vom Wind herübergewehten Rauchschwaden der brennenden Anlagen mal mehr, mal weniger angenehm vermischte.
Als Ludwig den Kofferraum schon schließen wollte, faltete er noch die Plastikplane auf und wollte sie aus Pietätsgründen über die Gesichter der rücklings eingeladenen Mitfahrer legen. Eine Ausbildung zum Leichenwagenfahrer hatte er zwar keine genossen, aber während seiner Dienstjahre als Ministrant in der Dorfpfarre war ihm der respektvolle Umgang mit Verstorbenen gründlich eingeimpft worden.
Als er nun die Gesichter der beiden Mitfahrer bedecken wollte, hatte er plötzlich ein sehr komisches Gefühl. Er fragte sich, ob er die letzten chaotischen und turbulenten Minuten vielleicht doch nur geträumt habe? War Ludwig nun selbst völlig überarbeitet oder am Durchdrehen, sah er schon Gespenster, oder hatte nicht wirklich irgendetwas an einer der Eisleichen minimal gezuckt? Einer der Eismänner, deren Alter er auf etwa Anfang bis Mitte vierzig schätzte, schien ein Auge ein kleines bisschen bewegt und tatsächlich eine Hand etwas geöffnet zu haben.
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