Leider waren manchmal auch Todesopfer zu beklagen. Dies waren meistens Wilderer, die sich partout nicht stellen lassen wollten. Selten verunglückte aber auch ein Jäger des Landgrafen. Die sich anschließenden polizeilichen Nachforschungen waren in solch einem Fall jedoch um ein Mehrfaches gründlicher und folgenreicher für die Bevölkerung als beim „unglücklichen Absturz“ eines Wilderers.
Durch den Besuch der englischen Abenteurer bot sich den Bauern des Kostnertales eine willkommene Möglichkeit, im harten Bergbauernalltag ein Zubrot zu verdienen, indem sie ihnen neue Wege auf Berggipfel zeigten.
Von der heutigen Tour versprachen sich Toni und Alois einen richtig großen Erfolg. Sie waren nämlich Hinweisen eines „mutigen Burschen“ aus dem Nachbardorf nachgegangen, bei dem es Zuhause öfter als nur zu den kirchlichen Hochfesten Fleisch im Eintopf gab.
Sein Hinweis bestand in einer vom Tal aus nicht einsehbaren Route an der Südost-Flanke der Glutterspitz, die über eine kurze Scharte einen gut kletterbaren Weg zum Gipfel ermöglichen sollte. Mit Hilfe von Leitern wäre im Sommer sogar das zusätzliche Überqueren des Glutterferners als Abkürzung machbar. Diese Variante könnte die Tour um gut zwei Stunden Gehzeit verkürzen. Die notwendigen Holzleitern konnten sie den Sommer über bedenkenlos am Rand des Ferners deponieren. Die Gämse würden sich schon nicht damit abplagen. Aufgrund ihrer famosen Kletterkünste kamen sie auch ohne Leitern scheinbar mühelos die steilsten Felswände hoch und runter.
Immerhin zählte die Glutterspitz zu den höchsten Gipfeln der gesamten Region. Ein englischer Kartograf, der im letzten Sommer unzählige Täler und Gipfel vermessen hatte, meinte sogar, dass sie knapp über 3.500 Meter hoch sein müsse, und dass dort oben nachweislich bislang noch kein Mensch gewesen sei. Folglich handelte es sich um eine besonders lohnenswerte Erstbesteigung. Nach dem mühsamen Durchstieg der angegebenen langen und steilen Scharte eröffnete sich den Burschen tatsächlich der Blick bis hinauf zum majestätisch thronenden Gipfel.
Gerade das langgezogene, gleichmäßig ansteigende, leicht überhängende Gipfelmassiv verlieh der Glutterspitze ihr markantes Erscheinungsbild, das sie von allen Seiten aus als gut erkennbaren Orientierungspunkt auszeichnete.
Von ihrem aktuellen Standpunkt hinter der bezwungenen Scharte machten die Bergsteiger mehrere mögliche Gipfelrouten aus und skizzierten diese mit Bleistift rasch auf einem Stück Papier, damit sie direkt am Berg auf eine kleine Erinnerungsstütze zurückgreifen konnten. Anschließend stiegen sie über die ihnen am geeignetsten erscheinende Route weiter auf, die sie nur selten korrigieren mussten. Am frühen Nachmittag hatten sie endlich den Punkt erreicht, von dem aus der restliche Weg zum Gipfel durchgängig einsehbar war. Ihr Ziel lag buchstäblich zum Greifen nah.
Nachdem sie den letzten, etwa dreihundert Meter langen markanten Grat aufgestiegen waren, standen sie erschöpft, aber zufrieden über die gemeisterte Route an ihrem Ziel. Eine Markierung brachten sie nicht an, denn der Gipfel sollte schließlich erst im nächsten Sommer mit den gut entlohnenden englischen Abenteurern als „Erstbesteigung“ erobert werden.
Ein Blick nach Westen ließ ihr Hochgefühl jedoch jäh in starke Besorgnis kippen, da sie nun die sich abzeichnende Wetteränderung in vollem Umfang überblicken konnten. Hätten sie die Luftdruckveränderungen mit einem Barometer ablesen können und sich mit moderner Wetterkunde ausgekannt, wären sie über die Dramatik des Wetterumschwungs deutlich früher informiert gewesen.
Hinter dem mächtigen Gipfel offenbarte sich eine riesige kohlrabenschwarze Wolkenfront, die zwar noch in der Ferne lag, sich ihnen jedoch mit bedrohlich hohem Tempo förmlich entgegenwälzte. Beinahe über die gesamte Breite des Alpenhauptkamms rollte sie aus Nordwest auf sie zu, klar abgegrenzt gegenüber einem stahlblauen Spätsommerhimmel. Der vordere untere Rand der schier endlos breiten Wolkenwalze war nicht nur rabenschwarz, sondern hatte eine leicht bräunliche Färbung. Dies war ein untrügliches Anzeichen für stärkste Gewitter mit Hagel- und Blitzschlag.
Als Bergler hatten sie zwar schon manch heftiges Gewitter erlebt, ein solch massives, hohes, breites und schnell heranziehendes Wettergebilde war ihnen bislang jedoch nicht unter die Augen gekommen. Einige Meter unterhalb des Gipfels, im Windschatten sitzend, kürzten sie ihre Brotzeit deshalb auf ein absolutes Mindestmaß, da mittlerweile das erste ferne dumpfe Donnergrollen die Luft vibrieren ließ und nichts wirklich Gutes versprach. Aufgrund ihrer Erfahrung wussten sie aber auch, dass die größte Gefahr in den Bergen von übereilten Abstiegen ausging.
Nachdem sie ihre Brotzeit mit einigen raschen Schlucken aus den Feldflaschen hinuntergespült hatten, zogen sie ihre Filzhüte tiefer ins Gesicht und machten sich mit ihren Wanderstangen auf den Heimweg. Diese Abstiegshilfe hatten sie den Schäfern abgeschaut, die die langen Holzstangen gleichsam als drittes Bein einsetzten und damit gerade im Absteigen mehr Halt fanden.
Als sie eine halbe Stunde später gerade wieder in die steile Scharte einstiegen, fielen schon die ersten Regentropfen, die schnell in einen heftigen Schauer und kurz vor dem Ende der Scharte in eisigen Graupel übergingen.
Das Gehen wurde immer schwieriger, da sie auf dem matschigen Pfad nicht ausrutschen wollten. Beherzt, aber vorsichtig ging es deshalb Passage für Passage das Bergmassiv hinunter.
Trotz des garstigen Wetters versäumten sie nicht, immer wieder kurz Halt zu machen, um ihre Route zu kontrollieren, damit sie sich nicht auch noch in unpassierbares Gelände verstiegen.
Um den allerstärksten Schauern zu entgehen, legten sie unter einem größeren Felsüberhang, der den Großteil von Wind und Regen abhielt, eine Rast ein. Ihre bewährten Wolljacken waren mittlerweile vollständig durchnässt und lagen schwer wie Blei auf ihren Schultern.
Da der Gewitterschauer nach mittlerweile einer halben Stunde nicht das leiseste Anzeichen eines Abklingens andeutete und ihnen dazu leicht kalt wurde, entschieden sie sich, den Obstler aus ihrem Rucksack zu ihrer Stärkung einzusetzen, und so zumindest für ein wenig „innere Wärme“ zu sorgen.
Während sich das Gewitter mit Regen, Graupel, Blitz und Donner entlud, neigte sich der Inhalt der Flasche irgendwann dem Ende zu. Nicht nur die Gewitterzelle hatte sich mittlerweile gründlich entleert.
Als sie zur Fortsetzung ihres Heimwegs aufbrachen spürten sie von der Wirkung des Obstgeistes glücklicherweise kaum etwas. Langfristig sollte seine belebende Wirkung für sie sogar enorm lebensverlängernde Auswirkungen haben, von der sie zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht das Geringste ahnen konnten. Dagegen mussten sie feststellen, dass das Gewitter ihren Weg mit einen halben Meter an Hagel- und Graupel-Gemisch überzogen war. Der kalte, scharfe Wind hatte die nass-feuchte oberste Schneeschicht an manchen Stellen zu einer kleinen Eiskruste zusammenbacken lassen. Ihren Abstieg konnten die Burschen nur äußerst behutsam und vorsichtig fortsetzen.
Angesichts der schon deutlich fortgeschrittenen Tageszeit entschieden sie sich, die Abkürzung über den Glutterferner zu nehmen, mit der sie zwei bis drei Stunden Wegzeit einsparen würden. Jedoch mussten sie beim Queren des Gletschers nun noch mehr aufpassen, da die Graupelmasse auf dem Eis sogleich angefroren war und bei jedem Schritt mal mehr, mal weniger nachgab.
Da sie wegen des Gewitters über die Gletscherpassage gehen mussten, banden sie sich zu ihrer Sicherheit das mitgebrachte gut dreißig Meter lange Hanfseil im Abstand mehrerer Meter über Schulter und Bauch. Für den einfacheren, aber längeren Weg war es deutlich zu spät.
Sie hatten den oberen Rand des Ferners beinahe überquert, als Toni auf einem glatten Stein ausrutschte. Dabei verlor er trotz seines langen Wanderstabes das Gleichgewicht und fiel kopfüber auf das frisch vereiste Schneefeld. Da Alois für einen kurzen Moment nochmals auf ihren zurückgelegten Weg Richtung Gipfel geschaut hatte, traf ihn der heftige Ruck am Seil völlig unvorbereitet. Er versuchte zwar noch, sich mit einem kurzen festen Ausfallschritt der Wucht des Seils entgegenzustemmen, hatte aber nicht den Hauch einer Chance und wurde mit auf den Gletscher gerissen. Über die erste Gletscherspalte flogen beide aufgrund der frisch entstandenen Schneeverwerfungen noch hinweg, was jedoch lediglich von drei irritiert schauenden Gämsen vom gegenüberliegenden Berghang aus beobachtet werden konnte. Danach ging es in einem flacheren Bereich weiter und ihre rasante Rutschpartie verlangsamte sich ein klein wenig.
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