Trotz ihrer in äußerster Verzweiflung ausgeführten heftigen Fußtritte und Schläge mit den bloßen Händen oder dem Wanderstock, gelang es ihnen auf der rutschigen Gletscheroberfläche aber nirgendwo, genügend Halt für ein ausreichend starkes Bremsmanöver zu finden. Außer dem gleichzeitigen Dröhnen und Poltern der mittlerweile niederfahrenden Lawine, die sie wie wild umhergeworfene Holzstücke eines tosenden Gebirgsbaches mitspülte und herumwirbelte - abwechselnd mal unter sich, mal wieder auf sich - konnte Toni nur Alois‘ verzweifelte Rufe „Halt! Jesus Maria! Halt ein!“ hören. Am Ende des Schneefeldes steuerte ihre wilde Rutschpartie auf eine große Kluft zu, über deren schneebedeckte Kante sie in die Tiefe gerissen wurden.
Glücklicherweise schlugen ihre Körper nicht mit voller Wucht am Grund der Spalte auf, sondern wurden nach dem ersten, schrägen Aufprall an der Gletscherwand auf einen Zwischensims der Gegenwand geschleudert, von dem aus sie in einem letzten Schwung zu Boden fielen. Wie durch ein Wunder waren sie am Grund der Gletscherspalte ohne die geringsten Verletzungen ankommen, da sich dort durch den heftigen Wind in extrem kurzer Zeit eine dicke, weiche Schneedecke gebildet hatte.
Gleichzeitig schütteten Teile der durch ihren Sturz ausgelösten Lawine in die Spalte. Spätestens der erste Aufprall an der Eiswand ließ die beiden Abenteurer ohnmächtig werden. Hier am Boden sorgten schließlich der eisige Wind und die tiefen Temperaturen dafür, dass ihnen Atmung und Blutkreislauf in kürzester Zeit stockten.
Innerhalb von fünfundsiebzig Sekunden verpufften ihre Träume und Hoffnungen von der geführten Erstbesteigungs-Bergtour mit den abenteuerlustigen Engländern in einem besonders eisigen Wind, der durch die Gletscherspalte wie durch eine Art von Düse gedrückt wurde. Hätten die beiden wackeren Burschen ihren fulminanten, dramatischen Sturz ein wenig länger überstanden, so wären sie sicher durch die extrem widrigen Bedingungen in der Gletscherspalte innerhalb weniger Stunden - vielleicht auch nur weniger Minuten - an extremer Unterkühlung gestorben. Obwohl ihre Kleidung vollständig aus bester Wolle bestand, dem damals besten und teuersten Material, hätte sie in diesem durchnässten Zustand dem eisig kalten Wind nicht wirklich viel entgegenzusetzen gehabt. Selbst sofort eingeleitete Rettungsversuche wären ohne die geringste Chance geblieben. Ihre ohnehin dürftigen Spuren waren durch den Schneesturm mittlerweile zugedeckt. Selbst die anfangs noch gut erkennbare Gletscherspalte war nun vollständig verschlossen.
Da der Wetterumsturz im Tal zwar deutlich, wenn auch weniger stark zu spüren war und die beiden Burschen zu später Stunde nicht heimgekehrt waren, machten sich ihre Eltern, Geschwister und Alois‘ Verlobte, die Griesacher Anna, große Sorgen. Noch in der Dämmerung bildeten die beiden Väter und alle greifbaren Brüder eiligst einen kleinen Trupp, der den beiden Wanderern entgegenzog. Vielleicht hatte sich einer der Burschen verletzt und sie kamen deshalb nur schleppend voran. Während des Gewitters hatte es im Tal nur geregnet. Dass am Berg deutlich mehr Schnee und Graupel liegen geblieben sein musste, war jedoch allen Beteiligten klar. Doch als die letzten Karbidlampen der Gruppe erschöpft waren, mussten sie ihre Suche vorerst einstellen und enttäuscht heimkehren.
Da am nächsten Morgen noch immer kein Lebenszeichen von den als zähen und kräftigen Saumgängern bekannten Burschen vorlag, wurde ein größerer Suchtrupp zusammengestellt, zu dem außer der direkten Verwandtschaft noch ein gutes Dutzend Dörfler zählte. So zogen etwa fünfundzwanzig Leute mit langen Stecken, Schaufeln und Hanfseilen ausgerüstet auf der ursprünglich geplanten Tour Richtung Glutterspitz.
Abends kamen sie jedoch mit enttäuschten Gesichtern von der Suchaktion zurück. Allein Tonis Aluminiumfeldflasche, die er offenbar bei einer Rast auf einem Felsvorsprung vergessen haben musste, war gefunden worden.
Traurig wurde dieser stille Zeuge den daheimgebliebenen Eltern übergeben. Man sprach sich noch Mut zu, die Köpfe nicht hängen zu lassen. Irgendwie würden es die beiden Burschen bestimmt wieder schaffen. Vielleicht kämen sie in ein paar Tagen völlig unbeschadet und breit strahlend zurückgewandert, da sie wegen des Schneesturms vielleicht in ein Nachbartal abgestiegen waren.
Mit jedem vergangenen Tag wurde dies für die meisten Dorfbewohner aber immer unwahrscheinlicher, obwohl die Beiden doch zu den kräftigsten und bergerfahrensten Männern des ganzen Tals zählten.
Trotz widrigster Umstände wären sie normalerweise schon lange wieder daheim oder hätten zumindest über das Telegrafenamt in einem Dorf des Nachbartals ein Lebenszeichen von sich gegeben.
In den folgenden Tagen hatte sich das Wetter erstaunlich rasch wieder beruhigt. Es blieb deutlich kälter und die Sonne schien nur noch ab und zu. Eine Woche nach dem großen Gewitter setzte ein verhältnismäßig starker Winteranfang ein.
Die oberen Weiden, von denen gerade erst die letzten Graupelreste des großen Unwetters abgetaut waren, sowie das restliche Tal wurden von einer dicken Schneedecke überzogen. Die Suche nach Toni und Alois wurde nun endgültig eingestellt, da keine Hoffnung mehr auf Rettung bestand.
Seit ihrem Verschwinden wurde in ihren Elternhäusern viel geweint. Besonders Alois‘ Verlobte wurde von Trauer und Kummer schier zerfressen, bis sie Alois’ Eltern gestand, dass sie und Alois bald ein Kind bekommen würden und sie ohne Alois nun in schwerer Not sei.
Als Ledige mit Kind traute sie sich nicht mehr zurück zu ihren sehr strengen Eltern. Anfangs war Alois‘ Vater noch sehr zornig über das erwartete ledige Kind. Seine Frau versuchte ihn aber immer wieder davon zu überzeugen, dass es schließlich auch Alois’ Kind und damit sein eigener Enkel wäre, den er zusammen mit der Anna verstoßen würde. Da ein nichteheliches Kind damals eine rechte Schande für die Familie war, so konnte man als guter Christenmensch die Anna eben nicht einfach vom Hof jagen.
Daher nahmen sie, nach Rücksprache mit dem wohlgesonnenen Dorfvorsteher, die Anna letztlich an Kindes statt an und hatten damit gleichzeitig Alois‘ Kind als künftigen Enkel in die Familie aufgenommen. Da von den beiden Vermissten bis Heilig Abend noch immer kein Lebenszeichen vorlag, wurden sie vom Herrn Pfarrer in die großen Fürbitten des Hochamts einbezogen.
Selbst nach dem Einzug des Bergfrühlings und dem Verschwinden des Schnees in den höheren Lagen waren keine weiteren Spuren der Abenteurer gefunden worden. Sämtliche Befragungen in allen Nachbardörfern jenseits der Berge hatten keinen einzigen Hinweis erbracht, sodass die Burschen vom Dorfvorsteher als verschollen erklärt wurden.
Ein trauriger und freudiger Anlass zugleich war kurz darauf die Geburt eines gesunden Sohnes durch die Griesinger Anna, die sich mittlerweile auf dem Hof von Alois’ Familie gut eingelebt hatte. Wo sie konnte, packte sie schon während ihrer Schwangerschaft mit an und war sich selbst an langen Winterabenden für keine Fleißarbeit zu schade. Vor ihren neuen Eltern genoss sie die gleiche Anerkennung wie eine rechtmäßige Schwiegertochter.
Im verhängnisvollen letzten Herbst war ihre Hochzeit für Mitte November anberaumt gewesen, sodass ihr Sohn eines der besonders gut entwickelten Siebenmonatskinder geworden wäre.
Wegen des engen Zusammenhanges mit dem Hochzeitstermin wurden derlei „starke Frühgeburten“ weder von der Hebamme noch vom Dorfarzt als besonders gefährdet eingestuft. Den wahren Grund für die schnelle und gesunde Entwicklung des Kindes wusste selbstverständlich jeder im Dorf, offiziell konnte so aber niemandem eine außereheliche, oder gar voreheliche Beziehung nachgewiesen werden.
Genau ein Jahr nach dem unerklärlichen Verschwinden von Toni und Alois ließen die Elternpaare der Verschollenen mit Zustimmung des Herrn Hochwürden am Rand des Gottesackers neben der Kirche einen Gedenkstein aufstellen, der mit seiner Inschrift einem Grabmal sehr ähnelte.
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