Damit Ludwig den Überblick über die vielen Details nicht verlor, trug er alle Fakten und Geschichten in seinem Rechner zusammen. So konnte er den staunenden Burschen letztlich einen einigermaßen durchgängigen Stammbaum ausdrucken, auf dem alle nur vermuteten Zusammenhänge, mit Unsicherheiten belegten Fakten, Wenns und Abers als solche deutlich erkennbar bezeichnet waren. Obwohl Ludwig ursprünglich nur die Geschichte der beiden Familien nachverfolgen wollte, war aus seiner Sammlung nahezu eine ansehnliche Ortschronik entstanden, die durch die verbindenden Geschichten und Berichte deutlich umfangreicher und akkurater als die Summe der Einzelarchive von Kirche und Rathaus war. Irgendwann wollte Ludwig aus dem gesammelten Material eine neue Dorfgeschichte erstellen. Aufgrund von dringlicheren Maßnahmen musste das vorerst noch ein wenig zurückstehen.
Nach dem ausgiebigen Studium ihrer Verwandtschaftsverhältnisse, besuchten sie daher an einem ruhigen und wolkenverhangenen Nachmittag zu dritt den Friedhof der Gemeinde. Nachdem sie die Gräber ihrer Verwandten und Nachkommen gefunden hatten, legten Alois und Toni jeweils ein kleines Blumengesteck, das Margret ihnen in ihrer fürsorglichen Art mitgegeben hatte, an die Gräber ihrer Nachfahren, zündeten eine Kerze an und beteten ein, oder auch mehrere Gsetzerl für die Verstorbenen.
Vielleicht sprachen sie in Gedanken ein wenig mit ihren Nachfahren oder mit ihrem Schöpfer über ihre momentane, völlig aberwitzige Lage. Auf jeden Fall verharrten sie über eine geschlagene Stunde an den Gräbern, ohne dass auch nur das leiseste Wort hörbar war. Letztlich verließen beide den Friedhof nicht mehr in der angespannten Haltung, die an ihnen beim Betreten des Angers noch erkennbar war, sondern mit einer zufriedeneren, direkt gelösten Miene und Haltung. Auf Ludwig machte es den Eindruck, als hätten Toni und Alois gerade ausführlich mit ihren Vor- und Nachfahren geredet und dabei einige klärende Antworten bekommen. Seit damals zählten Friedhofsbesuche zu ihrer wöchentlichen Tradition.
Und so lernten sie nach und nach die unterschiedlichsten Typen an Friedhofsbesuchern kennen. Da gab es den Besucher, meist in weiblicher Form als Besucherin auftretend, die mit leichtem Werkzeug ausstaffiert, routiniert mit wenigen Griffen und ohne großes Aufheben die besuchte Grabstätte wieder auf Vordermann brachte, um anschließend ein wenig in Ruhe zu verweilen. Ebenso war die recht geschäftige Besucherin anzutreffen, die ihren Aufgaben sehr offensichtlich nachkam und jede Gelegenheit zu einem kurzen Austausch mit Bekannten oder mit noch weniger bekannten Besuchern nutzte. Während der erste Typ eher wegen der Verstorbenen oder der inneren Einkehr vorbeikam, besuchte letzterer vermutlich den Friedhof eher wegen der Lebenden. Weiterhin gab es den traditionellen regelmäßigen Friedhofsbesucher, der meist in Familienstärke einmal pro Jahr, also regelmäßig zu Allerheiligen oder am Totensonntag vorbeischaute. Die mitgeführten Kinder oder zwangsverpflichteten Jugendlichen verstanden sich bestens darauf, zumindest reichlich genervte Gesichter zu machen oder sich durch bissige Äußerungen ein wenig Luft über ihren arg stapazierten Gemütszustand und ihre offensichtliche „Zwangsverpflichtung“ zu verschaffen. Alternativ wiesen sie durch permanentes Smartphone-streicheln demonstrativ auf ihre Freiheitsberaubung hin.
Denker, Gärtner, Ratschweiber, Pflichtbesucher, versprengte oder verloren gegangene Beerdigungsteilnehmer ... es ist schon erstaunlich, was sich auf einem Gottesacker alles herumtreibt, eben einfach auch nur äußerst menschlich!
An einem ruhigen Abend, als Toni und Alois nachmittags wieder auf dem Friedhof waren, wagte es Margret, ihnen auf ihrem Laptop die Ballade eines Alpen-Rockers aus Bad Goisern vorzuspielen. Die Liedzeilen des Stücks "Heast as net, wia die Zeit vergeht"rührten sowohl Toni als auch Alois zu schluchzenden Tränenströmen, um danach nahtlos in ein hemmungsloses, fast halbstündiges Weinen überzugehen. Jedes Mal, wenn sie sich beinahe wieder gefasst hatten, baten sie erneut um das Abspielen des Musikvideos und wurden prompt wieder von einer unermesslich großen Traurigkeit zu weiteren Tränenströmen gerührt.
Dabei wanderten ganze Berge von verschneuzten Papiertaschentüchern in den Abfalleimer. Margret und Ludwig konnten diesen Ausbruch an Trauer nur still begleiten und ihnen mit einer aufgelegten Hand oder ihrer bloßen Anwesenheit Trost spenden.
Nach einer langen Viertelstunde bat Ludwig Margret um das Beenden der für ihn sinnlosen Wiederholungen: "Moanst ned, dass des jetzt reicht?"Margret bestand jedoch geduldig darauf, dass Toni und Alois schon selbst spüren würden, wann genug sei: "Wenn sie sich genügend aufgestaute Trauer aus den Herzen geweint habn, werdn’s schon von sich aus aufhören."
Nach weiteren geduldigen zehn Minuten, die Ludwig wie eine weitere Stunde vorkamen, verlangte aber keiner der Burschen nach weiteren Wiederholungen. Mit einem tiefen Seufzer standen beide auf und gingen ins Bad um sich die Gesichter mit kaltem Wasser abzuwaschen. In der Zwischenzeit deckte Margret eine deftige Brotzeit auf, die anschließend gemeinsam, fast durchgängig schweigend verzehrt wurde. Die gelöste Atmosphäre glich dabei fast einer Abendmahlfeier.
Ein zweites Video mit einem Musikstück des Alpen-Rockers, das sie bei einer anderen Gelegenheit anschauten, erinnerte Alois ganz stark an seine frühere Verlobte, die Griesacher Anna: "Genau so is es, wia der singen tuat! Da moanst, der hät desselbe erlebt! Do brennts a jed’s mol unter der Haut, wenn i’s höre dua!"beschrieb Alois seine Empfindungen beim Lied "Weit, weit weg". "Die Stimm von der Sängerin klingt grad so wia die von der Anna. Des tuat so schee, brennt aber am Herz, weil‘s no gar ned sein ko!"
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