Deshalb stellte Ludwig zumindest vorerst keine weiteren Nachfragen mehr zu ihrem körperlichen Zustand. Andere Sorgen machte er sich indes um ihren seelische Verfassung, wenn sie irgendwann ihre tatsächliche Herkunft und ihren vorübergehenden längerfristigen Zwangsaufenthalt im Gletscher in vollem Umfang realisieren sollten. Ob sie das alles jemals in vollem Umfang begreifen, geschweige denn verstehen könnten, ließ sich momentan nur erahnen.
Statt solch belastenden Gedanken nachzuhängen, widmete sich Ludwig wieder dem Naheliegendsten: Ihrer antiquierten Sprache sowie ihrem reichlich mangelhaften Wissen um die, zumindest für sie, zahlreichen, völlig neuen Gegenstände, die sie nun plötzlich, selbst in einem Tiroler Hochtal im 21. Jahrhundert, zu Haufe umgaben. Im Nachhinein war Ludwig über seine, während des Abtransports von der Talstation spontan getroffene Entscheidung, dass sich die erwachten Männer auch bei ihm zuhause einleben könnten, sehr froh. Aufgrund ihres tatsächlichen Alters und ihrer doch sehr speziellen, wenn auch unfreiwilligen Überlebensmethode würden sie sonst vom massiven Medienrummel garantiert überrollt.
Auf ihre Nachfrage, warum sie nicht auf ihre eigenen Höfe gehen konnten, war Ludwig anfangs noch um eine passende Begründung verlegen. Vorerst ließ sich Ludwigs spontane Idee mit dem vermeintlichen Winterschlaf noch ein wenig weiter strapazieren: „Während eures langen Schlafs ist im Sommer des folgenden Jahres eine riesige Steinmuräne ins Tal abgegangen. Sie hatte große Teile des Dorfes unter sich begraben und leider waren dabei viele Einwohner umgekommen. Nur wer sich gerade nicht in der Nähe des Dorfes aufhielt, wurde vor der Katastrophe verschont! Wie durch ein Wunder überlebten im Dorf drei Kinder, weil sie sich in zufällig gebildete Schutzbereiche retten konnten, die sie vor dem Erdrückt werden und Ersticken bewahrten. Ein Kind etwa überlebte Dank eines umgestürzten schweren Eichenschrankes, in den es sich geflüchtet hatte.“ An solch ein, zumindest ähnliches Ereignis konnte sich Ludwig sehr vage erinnern. Vor längerer Zeit hatte er davon gelesen, konnte sich momentan beim besten Willen aber nicht mehr an den Ort und die genaueren Umstände erinnern.
Da es beim Aufwachen ihrer neuen Gäste noch ausreichend hell war, hatte Ludwig in der Wohnung vorerst kein Licht anschalten müssen. Auch sonst waren keine elektrischen Geräte in Betrieb. Abgesehen von den dezenten Rauchmeldern, die er nach dem letzten Fehlalarm jedoch endlich auf Langzeitmelder umgestellt hatte, die ohne rote Kontroll-LEDs auskamen. Die ganze Umrüstaktion musste er vor allem deshalb machen, da sich mancher schon sehr empfindliche Gast an der sporadisch zur Kontrolle blinkenden roten LED gestört hatte.
Auch der schöne straßen- und damit autofreie Ausblick auf den weiten Talboden führte glücklicherweise nicht zur Irritation der beiden Ice-Ager. Nachdem die sprachlichen Barrieren mit jeder Stunde kleiner wurden, fingen sie an zu berichten, an was sie sich überhaupt noch erinnern konnten. Es waren aber nur einzelne Fragen, derer sie sich im gegenseitigen Miteinander immer wieder versichern mussten, wie etwa: „Wie hoaßt mei Vatr nur? I woas es oafach it – i denk dro, ko oabr gao nix finda in moam Grind. Groad so als wärs weg gwischd.“ An manche Dinge konnten sich beide, an andere konnte sich nur einer der Burschen erinnern.
Als sich ihre Erinnerungen den letzten Stunden vor ihrem längerfristigen Verschwinden näherten, konnten beide Bergsteiger nur noch sehr vage vermuten, dass sie vermutlich gemeinsam am Berg unterwegs gewesen sein mussten. Daran, ob sie auf der Suche nach einem entlaufenen Vieh oder zu einem anderen Zweck unterwegs gewesen waren, konnten sie sich nicht im Geringsten erinnern. „Vielleicht woars a Stuck Viah wos moa suchn woarn – oder woas gonz oanders – I woaß oifach nix mea!“.
Glücklicherweise war die Fahrt im alten Familienkombi, geschweige denn in der turbulenten Kabinenbahn, offenbar nicht oder noch nicht vollständig in den Gehirnzellen der alten jungen Burschen gelangt.
Nur an seine Verlobte, die Griesacher Anna erinnerte sich Alois noch deutlich. Als Behelfsantwort improvisierte Ludwig, dass die Anna auch unter den Opfern des Gerölllawinenunglücks gewesen war. Das sei jedoch schon vor sehr langer Zeit passiert. Um genau zu sein, vor 134 Jahren, was aber Ludwig den frisch aufgetauten Bergsteigern taktvollerweise gegenüber vorerst noch nicht erwähnte.
In den ersten Tagen ihres wiederbelebten Lebens machten sich Toni und Alois nur wenig keine Gedanken über ihre bereits verstorbenen Verwandten beziehungsweise über mögliche Nachkommen. Dazu beschäftigten sie die zahlreichen technischen Kuriositäten und Neuheiten, die Ludwig ihnen vorstellte und auf die sie bald stoßen sollten viel zu sehr.
Nach Ludwigs Auffassung bestanden für die beiden Neubürger zwei grundsätzliche Gefahrenquellen: Zum einen würden sie durch ihre helle Begeisterung über die zumindest für sie absolut neue Technik sicherlich an jedem öffentlichen Ort für größeres Aufsehen sorgen. Über Banalitäten wie den automatischen Türöffner der örtlichen Bäckerei auszuflippen, würde sie schnell in die Nähe von geistig Zurückgebliebenen rücken.
Darüber hinaus stellten vor allem die elektrischen Erfindungen, gerade bei nicht korrekter Handhabung, eine enorm lebensbedrohliche Gefährdung dar. Das gerade erst frisch zurückerhaltene Leben aus einem Versehen wieder auszulöschen, konnte sicherlich nicht in ihrem ureigensten Interesse liegen.
Als es am ersten bewusst erlebten Abend ihres neuen Lebens dämmerte, zündete Ludwig deshalb zuerst einige Kerzen an, um die Neubürger anschließend leicht theatralisch zum Tisch zu bitten: „Ich muss euch unbedingt die ein oder andere Neuerung zeigen, die während eures langen Schlafes hier Einzug gehalten hat. Viele davon beruhen auf der Nutzbarmachung der Elektrizität. Seither hat die Petroleumlampe vollständig ausgedient! Licht zu machen ist heute absolut kinderleicht! Bitte erschreckt‘s euch nicht! Und zwar funktioniert das so:“
Just in diesem Augenblick schaltete er die Schreibtischlampe am Handschalter an. Und obwohl es sich lediglich um ein bescheidenes 30 Watt schwaches Lämpchen handelte, erschreckten sich Toni und Alois dennoch mit einem lautstarken „Uaaaah! Woas isn no des?“ über das zumindest ihrem Eindruck nach gleißend helle Licht. Und das, obwohl die altersmüde Energiesparlampe sogar noch einige Minuten lang ankämpfen musste, um ihre maximale Helligkeit überhaupt erst noch zu erreichen.
Während das Schauspiel andauerte fügte Ludwig hinzu: „Und man kann es ganz bequem an- und ausschalten! Immer wieder!“
Auf seine Einladung, das Schalten selbst auszuprobieren, verging die nächste Stunde mit endlosen enthusiastischen Einschalt- und Ausschaltversuchen. Dabei entdeckten die Burschen auch, dass sich die Deckenlampe sogar von unterschiedlichen Schaltern im Zimmer ein- und ausschalten ließ.
Anschließend beschrieb Ludwig ihnen auf möglichst einfache und verständliche Art, wie das mit dem Strom so ganz grundsätzlich funktioniert, woher er kommt und wie er in alle Häuser fließt. Dazu holte er das alte Dreigang-Damenrad seiner Schwiegermutter aus dem Keller. Auf den Kopf gestellt konnte er Stromerzeugung und Stromkreislauf mit Hilfe von Fahrraddynamo und Glühbirnchen vorführen.
In den letzten Jahren hatte er das ausgediente Damenrad mindestens einmal pro Jahr in die Schule mitgenommen, um seinen Schülern den elektrischen Stromfluss hübsch anschaulich erklären zu können. An diesen Versuchen waren die älteren Schulburschen genauso interessiert wie die Grundschüler, da sie in der folgenden Unterrichtsstunde einfache elektrische Schaltungen selbständig aufbauen und mit dem „Fahrrad- Kraftwerk“ speisen durften.
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