Und Kinder wünschten sich Ludwig und Margret reichlich. Richtig wuseln sollte es vor neugierigem und staunendem Leben bei ihnen. Margret und Ludwig stammten aus jeweils aus Familien mit mehreren Geschwistern, wobei sich beide als Sandwichkinder häufig zwischen älteren und jüngeren Geschwistern behaupten oder zwischen ihnen vermitteln mussten. Vielleicht waren sie gerade deshalb mit dem Wesen des Anderen so vertraut. Sicher war das zwar nicht der einzige Grund, warum sie sich liebgewonnen hatten; völlig unbedeutend für den Beziehungsalltag war diese Eigenschaft aber sicher auch wieder nicht.
Vom anstehenden Aushilfsjob bei der Seilbahn versprach sich Ludwig die Chance, die faszinierende Seilbahntechnik aus nächster Nähe kennen zu lernen. Auf den anstehenden Arbeitseinsatz freute er sich dabei fast wie ein Kind aufs Weihnachtsfest. Als Bub hatte er nach Weihnachten und dem Geburtstag jedes neue Spielzeug in kürzester Zeit zerlegt und meist wieder erfolgreich zusammengebaut. Ganz selten waren die ursprünglichen Funktionen ein wenig durcheinandergeraten. Wie gesagt: Ein ganz normaler Bub mit einer gesunden technischen Neugier!
Damals konnte er die heftigen Reaktionen seiner Eltern nach seinen Montage- beziehungsweise Demontageversuchen nie richtig nachvollziehen. „Ich muss doch wissen warum sich das grad so rum dreht und net anderscht!“ war seine grundehrliche Antwort auf die Einwände seiner besorgten Mutter: „Da kannst dich gscheit verletzen oder gar an einem Stromschlag sterben!“
In der Position des einzigen Namensträgers und zumindest damals noch vermeintlichen Hoferben der Familie hatten die Eltern dabei vielleicht nicht immer so ganz unrecht. Für ihn selbst war all dies jedoch kein nachvollziehbarer Grund, seine Neugier auch nur irgendwie einzuschränken.
Zusätzlich zur großen Seilbahnrevision mussten auch zahlreiche Wanderwege wieder in Schuss gebracht werden, da über die Wintermonate Lawinen und Erdrutsche manche Wege, Schilder und Markierungen stark in Mitleidenschaft gezogen hatten.
Der zuständige Alpenverein konnte das komplette Wegenetz aufgrund der zurückgehenden Anzahl aktiver Wegewarte schon seit vielen Jahren nicht mehr allein in Schuss halten. So war zusätzlich ein Team von vier Mitarbeitern der Seilbahngesellschaft im Bereich westlich der Bergstation unterwegs.
An der Stelle, an der der Wanderweg – ein beliebter Höhenweg rund um die Glutterspitz – den sich zunehmend verkümmernden Gletscher passierte, machte das Team am Mittag seine verdiente Brotzeit. Als einer der Arbeiter etwas abseits in einer Senke am Rand des Gletschers zum Piseln austrat, überkam ihn während des Wasserlassens ein schaurig gruseliges Gefühl, das ihm noch lange wildeste Alpträume verursachen sollte.
Durch das trübe, mit Erdreich verdreckte Eis kam es ihm vor, als ob er einen alten Wollhandschuh im Eis stecken sähe, in dem offenbar noch die Hand eines Toten steckte. Mehr konnte und wollte er aufs erste gar nicht erkennen.
Aufgeregt rannte er zu seinen Kollegen zurück, die ihn aber zuerst wegen seiner noch sperrangelweit offenstehenden Hosenfalle auslachten. Als er endlich zu Wort kam, schilderte er noch ganz verdattert den grausigen Fund am Gletscherrand.
Mit einem Mal war Schluss mit lustig und der Brotzeit! Alle packten ihre Grabwerkzeuge wie Pickel, Schaufeln und Äxte zusammen, um nach dem vielleicht grusligen Fund zu schauen.
Am Gletscherrand angekommen bestätigte sich die Vermutung ihres Kollegen, dass es sich bei dem Fund nicht nur um einen ausgeaperten alten Handschuh handelte. Mit behutsamen Schlägen legten sie die vollständige Eisleiche eines bärtigen Bergsteigers frei. Obwohl er offensichtlich schon seit geraumer Zeit tot war, gingen sie dennoch nur sehr ruhig und leise miteinander und mit der Leiche um. Selbst Kommandos für ein gemeinsames Anheben wurden eher halblaut gerufen. Nach vollständiger Auskavierung legten sie den leblosen, noch steif gefrorenen Körper auf eine der Schubkarren, die eigentlich für den Transport von Splitt und Werkzeug vorgesehen waren.
Kurz nach dem Abschluss der Ausgrabungsarbeiten entdeckten sie unweit der ersten Stelle noch eine zweite, offenbar ebenfalls männliche Leiche, die sie ebenfalls sehr vorsichtig freilegten. Mit der tiefgefrorenen Kleidung und Ausrüstung sahen die beiden Toten dem Anschein nach aus, als ob sie hier etwa seit den 1940er oder 1950er Jahren gelegen haben konnten.
Da der Vorarbeiter nach den Sondergrabungen bemerkte, wie viel Zeit sie mittlerweile für diese Aktion verbraucht hatten, besann er sich darauf, dass solche Fälle aufgrund der immer stärker zurückgehenden Gletscher in den letzten Jahren schließlich immer wieder vorkämen. An den abschließend genauer inspizierten Eisleichen konnten sie nicht die geringsten Ähnlichkeiten zum weltbekannten Mann vom Similaunjoch, dem sogenannten Ötzi ausmachen. So entschied er, dass die beiden leblosen Körper möglichst schnell ins Tal zum Herrn Pfarrer zu verbringen seien. Dieser hätte sicher noch ein geeignetes Armengrab auf dem Friedhof frei. Die Meldung bei der Polizei würde Hochwürden, wie üblich, sicher gleich miterledigen.
Just zu diesem Zeitpunkt würde eine polizeiliche oder langwierige gerichtliche Untersuchung den kompletten Zeitplan der Bergbahnrevision nur völlig durcheinanderbringen. Ihr gerne etwas cholerischer Chef würde deshalb garantiert mehrere Wochen lang toben und schimpfen. Was aber noch gravierender erschien, war, dass sie dann in der nachfolgenden Saison gewiss nicht mehr eingestellt würden, ganz gleich, ob sie für den Fund verantwortlich waren oder nicht! In dieser Beziehung kannte er seinen Chef mittlerweile leider schon recht gut.
Mit Schubkarren wurden die beiden Körper zügig zur Bergstation und von dort aus mit der frisch überholten Kabinenbahn weiter als ideale Testpersonen ins Tal transportiert. Der kniffeligste Teil der Revisionsarbeiten war zum Glück bereits erledigt. Er bestand aus dem Prüfen und Nachschmieren der zahlreichen Seilrollen von einer Revisionsgondel aus, die lediglich aus einer Art hängender Arbeitsplattform bestand. Auf dieser ließen sich die Arbeiter per Funk aus genau zur jeweiligen Stütze fahren und stiegen, mit Klettergurten gesichert, zu den Seilrollen hoch. Dort mussten sie das Tragseil soweit hochdrücken, dass sie jede Rolle einzeln im Freilauf auf ihren Zustand hin überprüfen konnten. Abschließend wurden die Lager jeweils noch mit einer Fettpresse geschmiert. Wegen des notwendigen Austauschs einzelner Seilrollen war die Mitnahme von lebenden Personen bis zur Freigabe durch den TÜV-Inspekteur strengstens verboten. Deshalb wurde der Fund aus dem Gletscher ohne Begleitung in eine der alten roten Vierergondeln gesetzt. Soweit man überhaupt von sitzen sprechen kann, denn sie mussten eher hineingestellt werden. Sollte sich doch der supergescheite Junglehrer um die beiden frostigen Kollegen kümmern und sie auf dem Friedhof der Pfarrei entsorgen. Sofort nach dem Ausgraben war ihm dieser Auftrag per Funk mitgeteilt worden.
„Da hat der „Herr Sturm und Drang“ erst einmal eine sinnvolle Aufgabe! Bevor er uns noch aus der Arbeit drängt“, kommentierte ein Arbeiter. Der Ruf seiner technischen Begabung eilte dem neuen Dorfschullehrer bereits voraus. Ganz selten war dies, wie in diesem Fall, jedoch auch ein wenig hinderlich.
Im Tagesverlauf hatte währenddessen ein rascher Wetterwechsel eingesetzt. Dem sonnigen Morgen folgte gegen Mittag leichter Nieselregen, der wenig später von einem ausgewachsenen Gewitter abgelöst wurde.
Als die Bahn nun auf der außerplanmäßigen Kontrollfahrt mit den zwei Testpersonen beladen wurde, war bereits ein leichtes Donnergrollen zu hören. Nach den ersten Metern der Fahrt kündigte sich jedoch plötzlich ein zusätzliches Problem an. Dem Seilbahnbediener fiel auf, dass die Seilbahn ohne sein Zutun immer schneller wurde und das mehrfach gesicherte Bremssystem nicht wirklich zu greifen schien. Zum Leidwesen des Maschinisten ließen alle Sicherheitsbremsen Seil und Gondeln nicht spürbar langsamer werden. So etwas konnte, durfte wegen der Mehrfachsicherungen eigentlich gar nicht passieren! Und doch: Tragseil und Gondeln beschleunigten ohne das Zutun irgendeiner Person auf die mindestens das fünffache der üblichen Geschwindigkeit. Glücklicherweise waren bislang erst drei Gondeln eingehängt, die nun jedoch geradezu filmreif Richtung Talstation rasten. Der einzige Trost, den der Seilbahnbediener sich selbst eher zur Beruhigung zuraunte, war: „Zum Glück sand koane echtn Leit drin, also no lebende Leit!“
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