Alle, mit denen ich in den drei Tagen hier spreche, erzählen mir fast wörtlich das Gleiche wie Sascha: „Niemand von meinen Freunden wählt Lukaschenka. Und am Ende hat er wieder über 80 Prozent der Wählerstimmen. Erklär mir mal, wie das ohne Wahlbetrug gehen soll?“
Überhaupt hält Sascha nichts von Politik, weder der russischen, noch der westlichen. „Warum beschwert sich der Westen darüber, dass die Krim wieder russisch ist? Das war sie vorher doch auch, bis Chruschtschow, natürlich ein Ukrainer, die Krim der Ukraine geschenkt hat. Er konnte ja nicht ahnen, dass die Sowjetunion irgendwann mal nicht mehr existiert. Und das Referendum war doch ganz eindeutig, die Krimbewohner wollten wieder zu Russland gehören.
Wir grenzen an beide Länder, Russland und die Ukraine, schon deshalb wäre es wichtig, dass der Konflikt beigelegt und die Sanktionen des Westens aufgehoben werden. Die Handelsbeschränkungen treffen unser Land nämlich auch. Wir sind dazwischen, nicht Ukrainer, nicht Russen, aber menschlich sind wir uns doch alle sehr ähnlich. Wir trinken alle ganz gerne Wodka“, und da ist sie wieder, diese Geste, das Fingerschnippen am Hals, mit der trinkfreudige Russen (und auch Weißrussen, wie ich jetzt sehe) zum gemeinsamen Alkoholkonsum auffordern (und mit der weniger alkoholfreudige Russinnen den harmlosen Ausländer davor warnen, dem betrunkenen Passanten zu nahe zu kommen).
Gut, dass ich hier in Minsk völlig trocken geblieben bin, denn anderenfalls hätte unser abendlicher Ausflug mächtig schief gehen können. Veras Sohn (wie fast alle Frauen, die ich bisher getroffen habe, lebt Vera von ihrem Mann getrennt) hat uns und ein paar Freunde zu einem nicht nur illegalen, sondern - auf jeden Fall im alkoholisierten Zustand - lebensgefährlichen Abenteuer eingeladen: Eine ganz besondere Sightseeing-Tour über die Dächer von Minsk. Im wahrsten Sinne der bisherige Höhepunkt meiner Reise.
In einem Wohnhochhaus im Zentrum von Minsk fahren wir mit dem Fahrstuhl bis in den 13. Stock, dann geht es noch ein paar Stockwerke durch ein heruntergekommenes Treppenhaus, und wir sind auf dem ersten Dach. Von da aus geht es über mehrere Leitern hoch und runter über einige Dächer von Nachbarhäusern bis zum Turm, der über drei lange Feuerleitern erklettert wird.
Unsere Ausflugsgesellschaft ist heil ganz oben angekommen, ein atemberaubender Blick über die Dächer von Minsk. Inzwischen ist die Sonne untergegangen und die Beleuchtung der Gebäude lässt meine bisherige Skepsis gegenüber der Minsker Architektur verschwinden. Von hier aus sehen auch die Wolkenkratzer jetzt ganz nett aus und das Wohnungetüm hinter der Insel der Tränen wirkt durch das warme gelbe Licht von hier oben aus richtig einladend.
Von den durchaus ansehnlichen Seiten der weißrussischen Hauptstadt und insbesondere seiner wald- und seenreichen Umgebung kann ich mir noch ein ganz spezielles Bild machen, oder besser, viele Bilder ansehen. Vera nimmt mich mit in den Minsker Fotoclub von 1960. Schon zu Sowjetzeiten war dieser Fotoclub berühmt, es wurden viele Medaillen bei nationalen und internationalen Ausstellungen und Wettbewerben gewonnen. Und auch jetzt hat dieser Club von Freunden des Fotografierens und der Fotografie künstlerisch Herausragendes zu bieten, davon bin ich als Laie restlos überzeugt.
Seien es die Bilder von Menschen oder Landschaften aus Weißrussland, seien es die fotografischen Ergebnisse von Reisen nach Italien, Karelien oder auf die Krim: die Fotografien ziehen mich in ihren Bann. „Im Herbst werden wir eine Ausstellung in Hannover haben, Du bist herzlich eingeladen.“
Ach Vera, ich komme gerne, wenn ich dann schon wieder zu Hause bin. Aber noch denke ich nicht an die Heimkehr. Eher an die Auf- und Abstiege über museumsreife Feuerleitern, die unkonventionellen, rasend schnellen Autofahrten mit Vera am Steuer durch den Minsker Stadtverkehr und raus an das Minsker Meer, die kratzigen Liebesbezeugungen einer mannstollen Hauskatze, sowie den Ab- und Aufstieg über eine wacklige Holztreppe in Veras Obstkeller (unter einer Garage).
Schließlich besuchen Vera, Sascha und ich noch die 88-jährige Tante Veras im Krankenhaus. Veras Tante freut sich sehr über unseren Besuch und bittet mich, Frau Merkel ganz herzlich zu grüßen. Das schelmische Zwinkern dieser sehr schönen alten Dame hindert mich daran, sie im Gegenzug zu bitten, doch meinerseits Herrn Lukaschenka viele Grüße auszurichten. Na, vielleicht liest ja jemand mit Zugang zum weißrussischen Präsidenten diese Zeilen: Aljaksandr, nun lass mal gut sein, genieß mal Deine Rente, die wird sicherlich höher sein als die durchschnittliche Rente von etwa 150 Euro pro Monat, da ist es ohne eigene Datsche (Vom russischen Wort Datscha = Grundstück mit Garten- oder Wochenendhaus) ganz schön schwer, über die Runden zu kommen.
Lettland, die kleine, mittlere der drei Baltenrepubliken, grenzt im Osten des Landes über 217 km an Russland.
Riga
Riga, die mit über 600000 Einwohnern größte Stadt des Baltikums, ist schon aufgrund der phänomenalen Architektur völlig zu Recht ein Tourismusmagnet. Doch es ist nicht immer das touristische Interesse, das Ausländer hierher lockt. In Roberts book-shop , einem Buchladen mit gemütlichem Cafe, der nicht weit von der berühmten Alberta iela mit ihren sagenhaften Jugendstil-Häusern entfernt liegt, treffe ich mich mit drei Medizinstudenten, dem Polen Karol und den beiden Deutschen Alexander und David.
Alexander, David und Karol sind trotz guter Abiturnoten am deutschen Numerus clausus gescheitert und haben Riga als nicht ganz billige (das Medizinstudium kostet hier für Ausländer 10000 Euro pro Jahr), aber machbare Alternative gewählt. Als erstes räumen die drei sogleich mit dem Vorurteil auf, dass man nur genug Geld haben muss, um dann auch als lernschwacher Dummkopf in Riga Medizin studieren zu können.
„In Deutschland liegt der Numerus clausus an den meisten Universitäten ja bei 1,0 bis 1,2, da war Lettland ein Ausweg, wo nicht nur auf die Abiturnote geguckt wird, sondern auch auf andere Leistungen wie zum Beispiel Motivation und Empfehlungsschreiben“, so Alexander. „Mittlerweile ist es sogar ziemlich schwer, als Deutscher hier in Lettland angenommen zu werden, es wurde inzwischen ein inoffizieller Numerus clausus eingeführt, und es gibt jetzt eine ebenfalls inoffizielle Quote für Deutsche und andere Ausländer.“
„Ich kam mit 15 nach Deutschland und habe dort mein Abitur gemacht“, wirft Karol ein. „Ich habe mich dann auch in Warschau beworben, aber als polnischer Staatsbürger durfte ich mich mit deutschem Abitur dort gar nicht bewerben. Na, dann kam aus Riga eine Zusage und ich habe den Platz angenommen.“
Auch David erzählt, dass er keinen schlechten Notendurchschnitt hatte, aber damit in Deutschland trotzdem nicht Medizin studieren konnte. Diese drei hochmotivierten und alles andere als lernschwachen jungen Männer beseitigen auch gleich noch das Vorurteil, dass man die beträchtliche Studiengebühr ja wieder durch geringe Lebenshaltungskosten reinhole.
„Mittlerweile gleichen sich die Lebenshaltungskosten immer mehr an. Für westliche Produkte zahlt man hier mehr als bei uns. Es gibt aber einen großen Markt, wenn man dahin geht, bekommt man einen großen Korb voller Gemüse für gefühlt 50 Cent“, so Alexander. „Und die Wohnungen sind immer noch deutlich billiger hier“, merkt David an. „Ich zahle für mein Zimmer in der WG 160 Euro Kaltmiete pro Monat.“ David hat da viel Glück gehabt, Karols und Alexanders Mieten liegen gut 100 Euro darüber.
Nachdem die finanzielle Seite nunmehr geklärt ist, interessiert es mich, wie denn so der Kontakt zu den lettischen Kommilitonen sei. Schnell wird klar, dass die drei jetzt, im klinischen Teil ihres Studiums, zwar mehr Kontakt zu den lettischen Mitstudierenden haben als im vorklinischen Teil, dass aber die ausländischen und die lettischen Medizinstudenten eher neben- als miteinander studieren, trotz einiger Initiativen wie gemeinsamer Theatergruppen.
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