Jetzt also Vilnius (Wilna), Litauens Hauptstadt, früher mal das Jerusalem des Nordens genannt. Noch 1939 waren 40% der 200000 Einwohner Wilnas Juden, von denen nur etwa 100 den Holocaust überlebt haben. Jetzt leben etwa 600000 Menschen in Vilnius, 50% davon Litauer und je etwa 20% Russen und Polen. Malerische Gassen laden zum Spaziergang ein, Architekturliebhaber kommen hier voll auf Ihre Kosten: Renaissance, Klassizismus, Gotik, Barock, Gründerzeit, alles sehr lieblich.
Mein neuer WhatsApp-Freund Kazimieras hat mich gestern noch per Nachricht daran erinnert, doch auf jeden Fall in seiner in der Altstadt liegenden Bernstein-Galerie vorbeizuschauen. Ernesta, die dortige Chefin, erwarte mich schon. Und wieder bekomme ich eine kostenlose Führung mit anschließendem Kaffee. „Ach, die Russen“ stöhnt Ernesta. „Während der Krimkrise war hier eine Gruppe von Ukrainern im Museum. Wir haben auf Russisch darüber gesprochen, dass die Russen einfach dort einmarschiert sind. Da kam eine russische Touristin zu uns und schimpfte, was wir da für einen Blödsinn redeten. Dann ging es ganz schön laut hin und her. Ansonsten macht es einen großen Unterschied, woher die Russen stammen. Die aus St. Petersburg sind zumeist gebildet, haben Kultur, besuchen hier auch Theater. Die aus Moskau kommen nur zum Einkaufen. Natürlich sind nicht alle so, aber insgesamt läuft es immer wieder darauf hinaus.“
Jetzt kommen aber gerade je eine Gruppe aus Japan und eine aus Brasilien, Ernesta hat keine Zeit mehr und verabschiedet mich herzlich: „Ja, in Nida sind es vor allem Deutsche, Skandinavier, und sonstige Westeuropäer, die unser dortiges Museum besuchen, hierher kommen Besuchergruppen aus aller Welt.“
Ich mache mich jetzt auf, eine eigene kleine Welt zu besuchen, in die ich mich vor einigen Jahren in einer lauen Sommernacht sofort unsterblich verliebt hatte. Mit entsprechender Vorfreude überquere ich auf einer alten Stahlbrücke den kleinen Fluss Vilnele (Vilnia) und reise ohne jegliche Grenzkontrolle in die Republik Užupis ein.
Vor 20 Jahren haben die 7000 Bewohner dieses alten Stadtviertels, darunter viele Künstler, Schauspieler und Musiker, ihre eigene Republik gegründet und sich eine Verfassung mit 41 Artikeln gegeben. Hier deren erste sieben:
1. Jeder Mensch hat das Recht, beim Fluss Vilnia zu leben, und der Fluss Vilnia hat das Recht, an jedem vorbei zu fließen.
2. Jeder Mensch hat das Recht auf heißes Wasser, Heizung im Winter und ein gedecktes Dach.
3. Jeder Mensch hat das Recht zu sterben, aber das ist keine Pflicht.
4. Jeder Mensch hat das Recht, Fehler zu machen.
5. Jeder Mensch hat das Recht, einzigartig zu sein.
6. Jeder Mensch hat das Recht zu lieben.
7. Jeder Mensch hat das Recht, nicht geliebt zu werden, aber nicht notwendigerweise.
Meine Lieblingsartikel sind die folgenden, aber auch alle anderen kann ich vollständig unterschreiben:
23. Jeder Mensch hat das Recht zu verstehen.
24. Jeder Mensch hat das Recht, nichts zu verstehen.
35. Niemand hat das Recht, jemand anderem die Schuld zu geben.
38. Jeder Mensch hat das Recht, keine Angst zu haben.
Als im Westberlin der 70er Jahre sozialisierter Nostalgiker kann ich nur allzu gut verstehen, dass frau in dieser Republik sehr gerne lebt, und das wird mir von der knapp 25- jährigen, nennen wir sie mal Dalia, in sehr passablem Englisch mehr als nur bestätigt:
„Unsere Republik hat die beste Verfassung aller Zeiten. Ich würde diese Verfassung der ganzen Welt empfehlen. Ich liebe die ganze Verfassung, am meisten mag ich die beiden Artikel über Katzen“:
10. Jeder Mensch hat das Recht, eine Katze zu lieben und für sie zu sorgen.
13. Eine Katze ist nicht verpflichtet, ihren Besitzer zu lieben, aber muss in Notzeiten helfen.
„Die Katze, die hier im Buchladen lebt, heißt so ungefähr big boss, großer Meister. Das war nicht unsere eigene Katze. Als der Buchladen eröffnet wurde kam die Katze vorbei und entschied, hier zu leben. Sie, bzw. es ist ja ein Er, ist sehr intelligent. Er ist inzwischen unser Marketing-Spezialist.“
Dalia hat zwar Publikationswissenschaft studiert, kann aber weder den alten, noch den neuen Medien etwas abgewinnen:
„Zeitungen und das Internet sind so negativ, die meisten Kommentare sind furchtbar, ich kann das nicht lesen. Ich kann auch nicht unterscheiden, was fake-news sind und was nicht. Es gibt einfach viel zu viel Informationen und ich habe nicht die Zeit zu überprüfen, welche Informationen denn nun wahr sind und welche nicht. Deswegen lese ich keine Zeitungen und politische Kommentare im Internet mehr. Es gibt wohl keine reine Wahrheit. Wie die Russen sagen: Jeder hat seine eigene Wahrheit.“
Auf meine Frage, wie die Russen denn so als Kunden sind, antwortet Dalia: „Moskauer und St. Petersburger kaufen viele Bücher, Russen aus kleineren Städten gucken mehr als dass sie kaufen. Ich kann allerdings nicht bestätigen, dass die St. Petersburger kultivierter als die Moskauer sind. Wir hatten hier mal eine Buchvorstellung eines Moskauer Schriftstellers, Moment mal, ich hole mal das Buch... hier, die Präsentation dieses Buches war die größte, die wir jemals hier in der Buchhandlung hatten. Dreißig Leute waren hier, die meisten aus Moskau, die sind extra dafür nach Litauen gekommen.“
Für Sowjet-Nostalgie ist Dalia, die ja im unabhängigen Litauen geboren ist, überhaupt nicht zu haben:
„In meinem Umfeld gibt es niemanden, der die alten, sowjetischen Zeiten wieder haben möchte. Meine Großmutter allerdings sagt immer, dass die alten Zeiten besser waren. Da war alles geregelt, das Leben war leichter, jeder wusste, was er zu tun hat, alles war schon von anderen für einen entschieden.“
Und die heutige Situation? „Der russische Bär macht einigen Menschen in Litauen Angst, der Bär ist ja sogar das Symbol der wichtigsten russischen Partei, soweit ich weiß, ich persönlich habe aber überhaupt keine Angst vor Russland. Nach unserer Verfassung habe ich ja schließlich das Recht, keine Angst zu haben. Ich hätte aber auch das Recht, Angst zu haben, wenn dem so wäre.“
Dem bleibt nichts hinzuzufügen, bye bye und aciu, danke, Dalia.
Mit einer Fläche von 207595 km 2ist Weißrussland der größte Binnenstaat, der vollständig in Europa liegt (danke, Wikipedia). Die Landesgrenze zu Russland hat eine Länge von 959 km.
Minsk
Der Kontrast zur Republik Užupis könnte wohl kaum größer sein. Minsk, schon nach weniger als drei Stunden mit dem Zug aus Vilnius erreicht, empfängt den Rucksackreisenden (die Koffer- oder Trolleyreisenden natürlich auch) mit imperialem Gehabe. Unendlich lange, breite Straßen, riesige Bauten, von stalinistisch bis höchstmodern, auch Aljaksandr Lukaschenka, der bereits seit 1994 recht autoritär regiert, liebt eine eher protzige Bauweise (nicht kleckern, sondern klotzen heißt die Devise). Alles ist außerdem sehr sauber, das gefiele mit Sicherheit auch dem Grenzschützer aus Kybartai. Erinnert mich an Singapur, nur die Strafen für weggeworfene Papiertaschentücher werden hier wohl weniger hoch sein.
Strafen gibt es in Minsk allerdings dann, wenn man irgendetwas gegen Lukaschenka sagt.
Sascha, 45-jähriger Jurist, macht eine eindeutige Geste, zwei gekreuzte Finger, und wiederholt noch einmal das dazu passende Wort „Тюрьма“, also Gefängnis. „Wenn man brav und artig ist“ (etwas freie Übersetzung meinerseits), „dann lässt er einen aber in Ruhe. Na, wir wissen ja selber, dass wir in der letzten Diktatur Europas leben.“ Saschas gute Freundin Vera, etwa gleich alte Web-Designerin, hält auch nicht viel von Lukaschenka: „Der liebt Sport. Hast Du gesehen, wie viele hochmoderne Sportanlagen, Hallen, Stadien es hier gibt? Dafür wird sehr viel Geld ausgegeben, für Kultur bleibt da nicht mehr so viel übrig.“
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