„Lebe wohl“, wünschte Thorgren seinem Freund zum Abschied und trieb Mondblesse wieder an.
So trennten sich ihre Wege wieder, und Thorgren dachte bei sich, die Hilfe der Götter werde ich tatsächlich benötigen.
Der Morgen graute, als er an der Mar-Kreuzung ankam. Diese Kreuzung und die dort aufeinandertreffenden Straßen gab es schon seit Jahrhunderten, sie waren aber bis zum lysidisch-seenländischen Krieg nur wenig befestigt gewesen. Noch während des Krieges wurden die Kreuzung und die Straßen in einen besseren Zustand versetzt, um ein schnelles Vorankommen der Kriegsheere zu ermöglichen. Erst nach dem Krieg erfolgte dann der Ausbau zu befestigten Handelswegen. Allein die Straße in Richtung Südwesten, die durch inzwischen unbewohntes Gebiet bis zur lysidischen Hauptstadt führte, hatten die Seenländer vernachlässigt.
Thorgren ließ sein Pferd eine halbe Stunde ruhen und grasen, während er sich über seine Vorräte aus der Großen Höhle hermachte. Auch für eine Pfeife nahm er sich noch die Zeit, bevor er seinen Weg fortsetzte. Er schlug zunächst die südliche Richtung ein und wandte sich dann nach Westen. Wenn alles glücklich verlief, konnte er am übernächsten Tag die Grenze zum Land-Der-Vielen-Feuer erreichen.
Astur erhob sich bereits majestätisch über dem östlichen Horizont. Nicht lange, und Pelin würde ihm im Westen folgen. Beide versprachen einen warmen Tag. So konnte er hoffen, dass Kleidung und Ausrüstung bald wieder trocken sein würden.
Der Tag verlief ruhig. Wie erwartet begegneten ihm keine Reisenden, und bei strahlendem Sonnenschein durchquerte er die friedlichen, ebenen Gebiete des westlichen Seenlandes. Wie der Name schon ausdrückte, kam er an einigen kleinen und größeren Seen vorbei, die von Wäldern und Wiesen umgeben wurden. Einige Flüsse, von Auen gesäumt, durchzogen das Land, und so musste Thorgren mehrmals Flussläufe auf Brücken überqueren, von denen manche nur noch wenig vertrauenerweckend waren.
An diesem Tag erlebte Thorgren noch eine angenehme Überraschung. Dieser Teil des Seenlandes war ihm nicht sehr vertraut. Daher stellte er am späten Nachmittag mit Verwunderung fest, dass die Gegend doch nicht so unbewohnt war, wie er geglaubt hatte, denn nachdem ihm irgendwann einige Bauernhöfe in der Nähe der Straße aufgefallen waren, erreichte er am Abend und zur rechten Zeit ein kleines Dorf, das – noch erstaunlicher – sogar über ein Gasthaus verfügte. Anscheinend hatten sich einige Bewohner dieses Landstriches doch dazu entschlossen, dort zu bleiben. Aber genaugenommen hatte der Krieg zwischen Lysidien und dem Seenland auch mehr im Norden stattgefunden, und diese Gegend war nur wenig davon betroffen gewesen. Aber die Nähe zum Land-Der-Vielen-Feuer hatte viele Einwohner dazu veranlasst, die Gegend zu verlassen.
Das Gasthaus war nicht besonders edel, es hatte nicht einmal einen offenkundigen Namen, und Thorgren wunderte sich, wie es überhaupt überleben konnte, denn Reisende mussten selten sein. Aber es kam ihm gerade recht, und da es bereits spät war und in nicht mehr allzu ferner Zeit die Abenddämmerung einsetzen würde, entschloss sich Thorgren, hier für diese Nacht ein Zimmer zu nehmen.
Der Ort lag so einsam, dass es schon ein unglücklicher Zufall gewesen wäre, hier auf Bekannte zu stoßen. Und so war es dann auch. Nicht nur, dass er dort auf niemanden stieß, der ihn als den Seneschall des Königs hätte erkennen können, er war auch der einzige Übernachtungsgast in dem Wirtshaus. Es schien wenig besucht zu werden, denn das alte Holzhaus machte auch von innen einen etwas verwahrlosten Eindruck.
Während er in der Gaststube sein Abendessen zu sich nahm, betraten nacheinander einige Einheimische den Raum und setzten sich an den Schanktisch. Sie warfen dem Fremden nur einen kurzen Blick zu, ohne ihn dann weiter zu beachten. Also scheinen gelegentliche Reisende hier kein allzu großes Aufsehen zu erregen , dachte Thorgren. Diese Gäste waren Bauern, schloss er aus deren Unterhaltung, die sich um Vieh, Grundstücke, Nachbarn, schlechte Preise und Ähnliches drehte. Thorgren beneidete sie in gewisser Weise um ihr ruhiges Leben. Während er dasaß, sein Bier trank und eine Pfeife rauchte, lauschte er dem Gespräch und stellte fest, dass es sich ausschließlich um Dinge des Dorflebens handelte. Keiner schien sich für die Welt draußen zu interessieren. Glückliche Menschen , dachte Thorgren. Er verließ die Schankstube und legte sich schlafen.
Am nächsten Morgen brach Thorgren früh auf. Sein Frühstück packte er ein, um es unterwegs zu essen. Das Land, durch das er nun kam, war eintönig und einsam. Die Ebene ging bald in ein Gelände mit geschwungenen Hügeln über, die fast ausschließlich von Gras bedeckt waren und kaum den Anblick eines Baumes oder Strauches boten. In der Ferne erblickte er gelegentlich den grüngrauen Streifen eines Waldes, und es dauerte nicht lange, da blieb auch der letzte Bauernhof hinter ihm zurück.
Seenländer bekam er an diesem Tag keine zu Gesicht und das Einzige, was sich bis zum Abend änderte, waren die höher werdenden Berge des Landes-Der-Vielen-Feuer, die sich im Laufe des Vormittags allmählich über den Horizont erhoben.
In dieser Nacht würde er unter freiem Himmel schlafen müssen. Er ritt noch, solange er etwas sehen konnte, dann verließ er die Straße und wandte sich ein Stück landeinwärts. Schon in der nächsten Senke fand er im schwachen Licht der Sterne einen kleinen Hain am Ufer eines Baches. Dort wollte er bleiben.
Nicht, dass Thorgren Angst gehabt hätte, neben der Straße zu nächtigen. Es war unwahrscheinlich, dass ihm dort Gefahr drohte. In dieser einsamen Gegend war das Geschäft von Straßenräubern sicher zu wenig lohnend, als dass sie dort auf Opfer lauern würden. Thorgren fühlte sich nur nicht wohl, wenn er unter freiem Himmel schlafen musste. Er wollte zwischen sich und den Sternen noch etwas anderes sehen. Und dieser Busch war genau das, was er gesucht hatte.
Thorgren entlud sein Pferd und ließ es frei. Er wusste, dass Mondblesse ihm nicht weglaufen würde. Er aß noch etwas, hüllte sich in seine Decke und schlief mit dem Kopf auf seiner Tasche bald ein.
Als er aufwachte, war es bereits hell. Obwohl er geschützt zwischen einigen Sträuchern gelegen hatte, hatte der Morgentau doch seine Spuren hinterlassen. Alle Dinge, die nicht unter seiner Decke versteckt waren, fühlten sich klamm an. Thorgren schlug die Decke zur Seite und streckte sich. Zwischen den Zweigen hindurch sah er Mondblesse grasen.
Ohne Unterbrechung und landschaftliche Veränderungen erreichte er am späten Vormittag den Grenzübergang. Wenn es auch ein Übergang hätte sein können, so war die Straße doch geschlossen. Es gab keinen Verkehr zwischen den beiden Ländern. Unmittelbar hinter der Grenze säumten zwei grob gemauerte Wachtürme die Straße, zwischen denen ein herabgelassenes Falltor den Durchgang versperrte. Von den Wachtürmen entfernten sich zu jeder Seite so weit das Auge reichte mannshohe Grenzmauern. Sie waren aus unbehauenen Feldsteinen errichtet. Thorgren wusste, diese Mauer nahm die ganze Länge der Grenze zwischen beiden Ländern ein. In größeren Abständen konnte er Wachsoldaten erkennen, die hinter dem Wall auf- und abgingen. Als er das Tor erreichte, stellten sich ihm drei Wachen entgegen. Sie ähnelten in ihrer Erscheinung den Seenländern, stellten gewaltige Bärte zur Schau und trugen grobe Kleidung, bestehend aus wollenen Hosen und Hemden und darüber Westen aus roh gegerbtem Leder. In ihren breiten Gürteln steckte eine Vielzahl verschiedener Messer. In ihren Händen hielten sie Schild und Speer und an den Seiten trugen die Wachen die berüchtigten Krummschwerter, die sie gekonnt handhabten und sie zu gefürchteten Gegnern machten.
Thorgren hielt sein Pferd an, blieb aber auf dem Tier sitzen.
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