Ab und an wanderte Margaux’ Blick auf das neben ihr liegende Exposé, das die Blastonk-Ehefrau hinterlassen hatte. Das beschrieb freilich nur den beruflichen Werdegang des vermeintlichen Ehebrechers. Mister Belanglos war 52 Jahre alt und hatte ein Studium der Biochemie in Tübingen erfolgreich absolviert. Im Rahmen der Hochschulausbildung promovierte er direkt, was in Chemiker-Kreisen absolut üblich war. Das sagte zumindest das Internet. Die universitäre Einrichtung entließ den jungen Dr. Streber mit summa cum laude. Respekt!
Insgeheim bewunderte sie diesen Dr. Blastonk um seinen erstklassigen Abschluss. Sie hatte niemals die Möglichkeit zu studieren gehabt, obwohl sie intellektuell mehr als großzügig ausgestattet war. Margaux’ Elternhaus förderte jedoch zu keinem Zeitpunkt die auffällige Intelligenz der einzigen Tochter. Vielmehr legten die Erzeuger Wert auf frühzeitiges Geldverdienen. Also hatte sie eine Lehre zur EDV-Kauffrau begonnen und erfolgreich absolviert. Ein Aufbegehren gegen das Zuhause erfolgte erst, als sie finanziell auf eigenen Füßen stand. Der Hang zur Gothic-Szene war ein Ausdruck dafür. Sie wollte die spießigen und kurzsichtigen »Erziehungsberechtigten« im Nachhinein schocken und bestrafen.
Aber vielleicht hatte die Vita ja auch etwas Gutes. Wer weiß, was ein Hochschulabschluss aus ihr gemacht hätte. Schwamm drüber! Mittlerweile war Margaux in Sachen Recherche, Computer und Internet ein wahrer Crack, ein Nerd. Eine wissenschaftliche Karriere hatte sie abgehakt. Zu spät! Jetzt hing sie bei den Froschkönigen ab und versuchte, den Alltag zu meistern. Okay, sie sah ein, dass sie auf sehr hohem Niveau jammerte. Ihr ging es gut, sie hatte Freunde. Und mit Paul und Hannes zu arbeiten, war auch nicht das Schlechteste. Sie mochte diese beiden Chaoten. Reichtum würde sie mit dem Job kaum einfahren, aber wer brauchte Geld, wenn man das Leben liebte?!
»Hi Hase! Alles in Ordnung? Gestern einen schweren Abend gehabt?« Albert stand im Büro. Margaux war dermaßen in Gedanken versunken, dass sie den Metzger nicht bemerkt hatte. Sie winkte ihm zu.
»Na klar. Ich war mit den Jungs noch auf einen Feierabend-Drink«, entgegnete sie.
»Oh ha! Verstehe.« In Margaux’ Nähe war Albert immer ein wenig gehemmt. Er mochte die Frau. Warum wusste er nicht. Vielleicht lag es daran, dass sie eine gewisse Unnahbarkeit, Kühle und für ihr Alter ungewöhnliche Ernsthaftigkeit ausstrahlte. Er fand die meist zugeknöpfte Margaux faszinierend und streckenweise geheimnisvoll. Aber da ging vermutlich seine Fantasie mit ihm durch. Gern hätte er sie intimer kennengelernt. Sie jedoch auf ein Date anzusprechen, war unvorstellbar!
»Ich wollte nur Bescheid geben, dass ich den Laden schließe. Muss auf ein Reitturnier.«
Sie blickte auf. »Hey cool. Und die Erfolgsaussichten auf ’nen Pokal?«
Albert winkte ab.
»Machs gut, Süße, und lass dich von den beiden nicht zu sehr einspannen.«
Margaux warf ihm ein Küsschen zu und vertiefte sich erneut in die Schriftstücke zu Dr. Blastonk. Sie las die Informationen über das Studium der Biochemie genauer auf der Website der Universität in Tübingen nach. Die Dokumente der Auftraggeberin gaben da kaum etwas her. Der Onlineauftritt der Fakultät besagte, dass die Hochschulausbildung die Hauptthemengebiete Medizin, Chemie und Biologie abdeckte. Aus den wenigen Unterlagen ging hervor, dass sich Dr. Blastonk auf die Neurochemie und Enzymologie spezialisiert hatte. Okay, das war nicht unbedingt spannend und der Burner. Nachdem er den Hochschulabschluss in der Tasche hatte, tingelte er erst einmal durch die Welt – hauptsächlich Indien, USA und Brasilien. Das Geld der Eltern machte es möglich. Das Elternhaus hatte Kohle ohne Ende. Der Vater führte ein mittelständisches Unternehmen mit Hunderten Angestellten, das als Zulieferer für die Automobilindustrie erfolgreich unterwegs war. Dann kamen die Neunziger und der Laden ging den Bach herunter. Insolvenz und Pleite! Zudem zockte der Senior an der Börse – mit wenig Erfolg. Er verbrannte einen Großteil des Vermögens mit dubiosen Optionsschein-Geschäften. Trotzdem war immer noch genügend Geld da, um ein komfortables Leben jenseits von existenziellen Sorgen zu führen.
Nach einigen Jobs in Deutschland und Überseefirmen trat Blastonk eine Stelle in Köln bei einem Pharma-Unternehmen an. Da machte er innerhalb zweier Jahre Karriere. Er kletterte das Leiterchen stetig himmelwärts. Die Geschäftsführung ernannte den intelligenten jungen Mann zum Leiter der Forschungsabteilung. Was er da genau erforschte, vermochte selbst das Internet nicht zu berichten. Wahrscheinlich das Pillendreher-Übliche – neue Pülverchen gegen Kopfschmerzen und Impotenz entwickeln und die dicke Kohle einfahren, dachte Margaux ein wenig sozialneidisch. Sie musste den Laden so schnell wie möglich durchleuchten. Kein Problem dank Web. Schließlich galt es auch hier, den untreuen Ehegatten in Verruf zu bringen.
Das Unternehmen mit Sitz vor den Toren Kölns und in Luxemburg hieß »BioSeq« und war ein eher kleinerer Player am hart umkämpften Biotech-Markt. Gleichwohl spielte man bei den Großen mit – und das mit beachtlichem Erfolg. Laut Wirtschaftsbericht aus dem Netz erwirtschaftete die Firma letztes Jahr einen Umsatz von stattlichen 280 Millionen Euro und das bei rund 100 Millionen Euro Gewinn. Nicht schlecht! Hauptsächlich beschäftigte sich BioSeq mit der Suche nach sogenannten Susceptibility-Genen. Die sollten wohl so etwas wie der Heilige Gral der Genforschung sein. Viele Gene im menschlichen Genom waren für die häufigsten Krankheiten verantwortlich. Für die meisten dieser Gebrechen jedoch gab es bis heute entweder gar keine oder nur sehr begrenzte Therapiemöglichkeiten. Und da kamen die ominösen Susceptibility-Gene ins Spiel. Eine Therapie der seltenen und kaum behandelbaren Genleiden schien laut BioSeq bald möglich. Die Ergebnisse der Genforschung flossen in eine gemeinsame EU-Datenbank ein. Hier ging es um Hightech-Wissenschaft im Bereich der Bio-Informatik und des Drug-Designs – so viel verstand Margaux. Und das sollte auch erst einmal reichen. Ihr begann langsam der Kopf zu schmerzen. Eines stand fest: Dr. Blastonk war in einem der führenden Unternehmen dieser Disziplin eine maßgebliche Person.
Die Türglocke läutete und zwei reichlich beschädigte männliche Wesen schlurften ins Büro. Hannes und Paul sahen erbärmlich aus. Wert auf ein frisches Aussehen hatten sie nicht gelegt, auch geruchsmäßig wiesen die Kollegen Defizite auf. Margaux rümpfte die Nase. Wie lange die beiden es in der Cocktailbar hatten krachen lassen, konnte sie nur erahnen. Sie beendete das Besäufnis gegen drei Uhr nachts, als Margaux speiübel aus dem Laden stürzte. Sie schaffte es gerade noch in ihr wenige Meter weit entferntes Appartement bzw. an den davorstehenden Baum. Wie sie es in die Wohnung geschafft hatte? Fehlanzeige! Filmriss! Heute Morgen war sie mit einem mächtigen Kater wach geworden. Ausgezogen hatte sie sich gestern Abend nicht mehr. Sie stank nach Alkohol und Nikotin. Aha, das volle Programm also. Na prima. Die Dusche wirkte Wunder. Nach einer gefühlten Stunde des Brausens war die Welt wieder zu zwei Dritteln hergestellt. Allein ein penetranter Kopfschmerz erinnerte an das gestrige Vergehen.
Paul und Hannes schlichen ins Büro. Befriedigt stellte Margaux fest, dass es ihren Mitstreitern noch sehr viel schlechter ging als ihr. Gut so!
»Guten Morgen, auch schon da?«, schmetterte sie ihnen mit letzter Kraft und immenser Lautstärke entgegen. »Kaffee?«
Hannes winkte ab und Paul schüttelte vehement den Kopf.
»Hör auf, wenn ich noch mehr Espresso saufe, mutiert meine Blutgruppe bald zu Arabica«, stöhnte Hannes, während er eine doppelte Dosis Aspirin-Pülverchen ohne Flüssigkeit in den Rachen kippte. »Oh Mann, ich trinke nie wieder Alkohol.«
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