Immer wieder taucht ein Gesicht auf, das etwas tief in seinem Innersten berührt. Aus Neugierde folgt er dem Gefühl. Er kennt die Person, kann sich aber nicht an ihren Namen erinnern. Sie spricht mit ihm, aber in dem Getöse um ihn herum versteht er nicht, was sie sagt.
Cyclone versucht, von ihren Lippen zu lesen. Immer wieder ruft sie einen Namen. »Sam!« Wer ist dieser Sam? , fragt er sich. Schließlich gibt er es auf, von ihren Lippen zu lesen und schaut ihr in die Augen. Dann fällt ihm alles wieder ein. Wer sie ist, wer er ist, wo er ist und was seine Aufgabe ist. Schlagartig bekommt das Chaos um ihn herum Sinn. Er identifiziert die Ressourcen des Rechenzentrums, beginnt sie zu ordnen und besetzt sie mit seinen Programmen.
Zero beobachtet verschreckt die Wandlung seines Freundes. Sofort nachdem er leichtsinnig und ungeschützt in die Säule griff, begann diese ihn aufzusaugen. Gierig wie ein Investmentbanker, dem ein Milliardenbonus winkt. Zunächst sah es aus, als würde er für immer darin verschwinden. Doch dann wandelte sich das Bild. Aus der Säule strömt nun eine Windhose, die schnell größer wird. Schon zerren die Winde an ihm und drohen ihn mitzureißen.
»Cyclone!«, schreit Zero. »Hey, ich bin auch noch da. Pass auf!« Der Wikinger hat wenig Hoffnung, dass er bei dem Lärm, den der Wirbelsturm verursacht, gehört wird. Doch zu seiner Überraschung taucht plötzlich das überlebensgroße Gesicht seines Freundes vor ihm auf.
»Keine Sorge. Ich habe dich nicht vergessen. Du siehst aus, als könntest du auch was von den Systemressourcen gebrauchen. Komm. Es gibt mehr als genug. So viel hast du noch nie gehabt. Das ist ein geiles Gefühl.«
Cyclone gibt seinem Freund dosierten Zugriff. Innerhalb von Sekunden wächst sein Avatar zu beeindruckender Größe heran.
»Du hast Recht!«, bestätigt Paul. »Das ist wirklich episch. Ich fühle mich so stark, ich könnte die Erde aus den Angeln heben und auf den Mond w …, pass auf!«, schreit er plötzlich, aber es ist schon zu spät. Wie aus dem Nichts sind die Wächter des Betriebssystems wieder aufgetaucht. Einer von ihnen zerteilt die Windhose mit seinem Schwert in zwei Hälften. Das Ende des Sturms scheint gekommen, aber dann regeneriert Cyclone sich wieder.
Auch der abgetrennte Stumpf stirbt nicht ab, sondern wächst selbst zu einem Wirbelsturm heran. Fast so groß und mächtig wie Cyclone selbst. Noch während er wächst, wirbelt die Windhose hinter den Wächter. Der scheint zu ahnen, was ihm bevorsteht. Er wuchtet sein Schwert mit aller Kraft nach hinten, aber es ist zu spät. Laut brüllend wird er zwischen den beiden Wirbelstürmen zerfetzt und seine Bits und Bytes in alle Winde verstreut.
Zero ist von dem Anblick so fasziniert, dass er den Angriff auf sich beinahe zu spät bemerkt. Aus den Augenwinkeln sieht er eine Bewegung. Blitzschnell dreht er sich zur Seite und blockt den Schwerthieb mit seinem Schild.
Der Aufprall verursacht einen tiefen Glockenton und sein Schild vibriert bedenklich. Aber er hält. Der Wikinger schlägt mit seiner Axt zurück. Der Wächter pariert mit seinem Schild und wieder durchdringt ein mächtiger Glockenton den Raum. So geht es eine Weile hin und her, ohne, dass einer der beiden einen Vorteil für sich erringen kann.
Trotzdem ist Zero zufrieden. Kein Vergleich zu der letzten Begegnung. Dank des direkten Zugriffs auf die Systemressourcen sind die Chancen ausgeglichen. Auf Dauer wird das aber nicht reichen. Die Art, wie sein Schild vibriert, verheißt nichts Gutes. Lange wird seine passive Bewaffnung nicht mehr halten. Er überlegt fieberhaft, wie er seinen Gegner austricksen kann. Zero beobachtet und analysiert dessen Taktik. Sein Kontrahent ist ein Meister des Schwertkampfs. Er gibt sich keine Blöße. Der Wikinger ändert seine Taktik und täuscht Schwäche vor. Zuerst hält er seinen Schild so, dass er unter der Wucht eines Schlages zerspringt. Dann lässt er sich zurückdrängen und tut so, als ob er seine Axt kaum mehr heben kann. Es ist ein riskantes Spiel, aber er weiß, was er tut.
Schließlich steht er mit dem Rücken zu einer Säulengruppe und hat keine Möglichkeit mehr auszuweichen. Der Wächter wittert seine Chance. Noch während er zu einem vernichtenden Schlag ausholt, stürmt er los. Zero wartet mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern ab, die Axt auf den Boden aufgestützt.
Erst als die glühende Klinge auf ihn niedersaust und droht, ihn von Kopf bis Fuß zu spalten, reagiert er. Blitzschnell macht er einen Side-Step und dreht sich einmal um seine eigene Achse.
Der Wächter ist von dem Manöver so überrascht, dass er nicht rechtzeitig reagiert. Der Schwerthieb geht ins Leere und er läuft, von seinem eigenen Schwung mitgerissen, weiter auf Zero zu. Dieser beendet seine Drehung genau in dem Moment, als der Angreifer mit ihm auf gleicher Höhe ist. Der Wikinger kanalisiert seinen Drehimpuls in seine Axt und schlägt seinem Gegner den Kopf ab.
Der Schädel landet in der Säule. Den Körper befördert er mit einem Tritt hinterher. Zero sieht zu, wie die Teile aufgesaugt werden. Der Wikinger hat nicht vor zu warten, bis der Wächter daraus wieder hervorkommt. Mit aller Kraft treibt er seine Axt in den Pfeiler, sorgfältig darauf bedacht, im letzten Moment loszulassen.
Das Blatt der Waffe dringt mit einem Knirschen, das durch Mark und Bein geht, bis zur Hälfte in die Säule, die Teile des Betriebssystems symbolisiert. Schlagartig verliert sie um die Einschlagstelle herum ihre Leuchtkraft. Dann breitet sich Dunkelheit nach oben und unten aus wie eine Spinne, die unzählige schwarze Extremitäten ausstreckt und alles, was sie berührt in das Reich der Finsternis zieht.
Wie aus dem Nichts schießen Engel herbei und versuchen das strahlende Grün der Säule zu retten, indem sie sich den finsteren Rissen entgegenstellen. Trotzdem kann sich die Schwärze bis auf halbe Höhe ausbreiten.
Bis dahin ist Zero aber schon längst weg, Cyclone zu helfen. Dieser wird von drei Wächtern bedrängt. Immer wieder reißen sie gewaltige Fetzen aus seinen Wirbelstürmen, die er nur mit Mühe wieder ersetzen kann.
Noch im Laufen zieht der Wikinger sein Schwert und benutzt es wie einen Speer, um es dem nächsten Wächter von hinten an der Schwachstelle zwischen Helm und Rüstung in den Nacken zu rammen.
Zero verliert keine Zeit, das Schwert wieder herauszuziehen, sondern rammt den Wächter von hinten und katapultiert ihn in die nächste Säule. Blitzschnell greift er nach seinem Bogen, legt einen Pfeil ein und schießt auf den zweiten Gegner, der sich ihm gerade zuwendet. Der Pfeil trifft ihn im Auge. Der Hüter lässt einen markerschütternden Schrei los, lässt sein Schwert fallen und wirft den Kopf nach hinten.
Mehr Ablenkung braucht Cyclone nicht. Innerhalb von Sekunden zermalmen zwei wütende Wirbelstürme den angeschlagenen Wächter. Dann zucken Blitze aus dem Tornado und schlagen in den Säulen um ihn herum ein. Zuerst glaubt Zero, es ist ein Versuch sie zu zerstören, aber dann erkennt er, dass sein Freund darüber die Systemressourcen in sich aufsaugt.
Cyclone wächst rasant und dreht sich immer schneller. Zero wird von der Windhose erfasst und durch die Luft gewirbelt. Der Wikinger weiß, es ist Zeit für ihn, das Holovers zu verlassen. Gerne hätte er den Akt der finalen Zerstörung noch angeschaut, aber solchen Urgewalten weicht man besser aus. Er hofft nur, dass Cyclone sich rechtzeitig losreißen kann und sich nicht zusammen mit dem Betriebssystem selbst vernichtet.
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