Brendan Erler
Digitale Evolution, Revolution, Devolution?
Das Kunstwerk im Zeitalter seiner digitalen Reproduzierbarkeit am vergleichenden Beispiel der Musik- und Literaturbranche
Die vorliegende E-Book wurde in einer längeren Fassung vom Fachbereich Sprache, Literatur, Medien der Universität Hamburg im Jahre 2015 als Dissertation mit dem Titel „Kulturkampf 2.0. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner digitalen Reproduzierbarkeit am vergleichenden Beispiel der Musik- und Literaturbranche“ angenommen.
Brendan Erler, geb. 1979, Diplom in Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, Promotion in Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Graduate School Media and Communication der Universität Hamburg.
© 2016 Brendan Erler
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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theorie und Praxis
2.1 Forschungsfragen: Digitale Devolution, Evolution oder Revolution?
2.2 Struktur der Arbeit
2.3 Methodische Umsetzung
2.4 Diskursive Konstruktion von Wirklichkeit
2.5 Urheberrecht und kulturelle Grundversorgung: Naturrecht oder Naturalisierung historisch-spezifischer Eigentumsverhältnisse?
3 Studienlage: „Empirische Realität“
3.1 Rolle der Piraterie: Substitution oder Promotion?
3.2 Abschreckung und Kontrolle: Verwertungsschutz vs. Informationsfreiheit
3.3 Musikproduktion: Quantität vs. Qualität
3.4 Lage der Veranstaltungsbranche: Konzert als Plattenersatz?
3.5 Demokratisierung: Superstars vs. Long Tail
3.6 Lage der Literatur: Spaltung der Autoren und ambivalente Funktion des Urheberrechts
3.7 Fazit „Faktenlage“
4 2000-2003: Napster und die Folgen
4.1 Der Beginn der unendlichen Geschichte von der Krise der Musikindustrie
4.2 Der Musikdiskurs: Digitale Evolution
4.3 Lage der Literaturindustrie in Zahlen
4.4 Der Literaturdiskurs: Glaube und Optimismus
4.5 Kurze Einführung in das Urhebervertragsrecht
4.6 Der Diskurs zum Urhebervertragsrecht: Angemessene Vergütung in einer Marktwirtschaft
4.7 Kurze Einführung in das Urheberrecht in der Informationsgesellschaft (Erster Korb)
4.8 Der Urheberrechtsdiskurs: Privatkopie und Privateigentum
4.9 Metadiskurs Kultur, Digitalisierung, Urheberrecht: Digitaler Fortschritt
4.10 Fazit 2000-2003: Der Digitalisierungsdiskurs zwischen digitaler Evolution und kultureller Erosion
5 2004-2008: Google Books und eine weitere Reform des Urheberrechts
5.1 Die Lage der Musikindustrie in Zahlen.
5.2 Der Musikdiskurs zwischen andauerndem Krisenlamento und zaghaften Hoffnungsschimmern
5.3 Die Lage der Literaturindustrie in Zahlen
5.4 Der Literaturdiskurs: Digitalisierung als Chance
5.5 Kurze Einführung in den „Zweiten Korb“: Urheberrecht bleibt Baustelle
5.6 Diskurs zur Urheberrechtsreform: Privatkopie, Geräteabgabe und Durchsetzungsrichtlinie
5.7 Metadiskurs Kultur, Digitalisierung, Urheberrecht: Verstärkte Netzkritik
5.8 Fazit 2004-2008: Der Digitalisierungsdiskurs zwischen Vergötterung des Internets und Netzkritik
6 2009-2012: ACTA und die GEMA gegen des Rest der Welt
6.1 Die Lage der Musikindustrie in Zahlen
6.2 Der Musikdiskurs: Stabilisierung und Spaltung
6.3 Lage der Literaturindustrie in Zahlen
6.4 Der Literaturdiskurs: Kritik an Google und den Verlagen
6.5 Metadiskurs Kultur, Digitalisierung, Urheberrecht: „It’s the end of the world as we know it”
6.6 Fazit 2009-2012: Der Digitalisierungsdiskurs zwischen neuen Menschen und alten Geistern
7 Künstlerkritik, Netzkritik und die Dialektik des Kapitalismus
8 Gesamtfazit: Der Digitalisierungsdiskurs zwischen Fortschrittsglauben und Kulturpessimismus
9 Literaturverzeichnis
Ausgangspunkt und Quelle des zu untersuchenden Umbruchs in der Musik- und Literaturindustrie ist das Phänomen der Digitalisierung, womit die „Umwandlung von Informationen wie Ton, Bild oder Text in Zahlenwerte zum Zwecke ihrer elektronischen Bearbeitung, Speicherung oder Übertragung bezeichnet [wird]. Die Digitalisierung nahm ihren Anfang in der elektronischen Datenverarbeitung, bei der Informationen in binäre Zahlenwerte umgesetzte werden. Das breite Publikum erreichte sie zunächst mit der Einführung der CD als Tonträger im Jahre 1982“ (Hans-Bredow-Institut 2006, 95). Diese CD, die der Musikindustrie zu Beginn eine goldene Zeit bescherte, gilt später im Diskurs sozusagen als trojanisches Pferd, welches den Keim des Unterganges der alten Plattenindustrie in Form digitalisierter und damit theoretisch verlustfrei kopierbarer Musik schon unbemerkt in sich trug. Ihren öffentlichen Siegeszug feierte die Digitalisierung dann im Zuge der Popularisierung des Internets zur Verbreitung digitaler Inhalte und Informationen, wobei die Musikindustrie im Zusammenhang mit der Musiktauschbörse Napster und der damit verbundenen Piraterie wieder eine Schlüsselrolle spielte. Sie wird daher oft in einem Atemzug genannt mit dem vermeintlichen Wandel von einer Industrie- zur Informations- oder Wissensgesellschaft in einer globalisierten Welt. „Access. Das Verschwinden des Eigentums“, wie Jeremy Rifkin 2000 diagnostizierte.
Nach Castells bezeichnet das Informationszeitalter „eine historische Epoche menschlicher Gesellschaften. Das auf mikroelektronisch basierten Informations- und Kommunikationstechnologien sowie der Gentechnologie beruhende technologische Paradigma, welches diese Epoche charakterisiert, ersetzt bzw. überlagert das technologische Paradigma des Industriezeitalters, das primär auf der Produktion und Distribution von Energie beruhte“ (2001, 423). Wegen der Allgegenwart der Schlagworte von der Wissens- oder Informationsgesellschaft über alle politischen Grenzen hinweg gilt dessen Aussagekraft jedoch als begrenzt[1] oder, wenn damit normative Prämissen wie die neoliberale „Diagnose politischer Gestaltungs- und Regulierungsohnmacht“ verbunden sind, als strittig. „Insofern ist die Zeitdiagnose Wissensgesellschaft gerade im politisch-öffentlichen Diskurs mit einem spezifischen ‘Denkhorizont‘ (Pierre Bourdieu) verknüpft, der seinerseits zu einer verstärkten Naturalisierung und Verdinglichung gegenwärtiger Gesellschaftsstrukturen führt“ (Bittlingmayer / Bauer 2006, 13).
Dieser Denkhorizont im Rahmen des Einzuges der Digitalisierung in die Kulturindustrie ist es, der für diese Arbeit von besonderem Interesse ist. Mit welchen Kulturbegriffen wird dem digitalen Wandel begegnet und wie werden dementsprechend bestimmte umkämpfte Begriffe wie die Digitalisierung oder das Urheberrecht konnotiert bzw. naturalisiert? Und welche politischen Gesellschaftsvorstellungen zwischen Konservatismus und Liberalismus, Fortschrittsglauben und Kulturkritik liegen dem zu Grunde.[2] Die Rede von der Kulturindustrie impliziert nach Horkheimers / Adornos „Aufklärung als Massenbetrug“ schon ein normatives Urteil zum Wesen und der Qualität der von ihr produzierten Kunst und Kultur. Der Begriff findet hier Verwendung, da es sich sowohl im Bereich der Musik- als auch der Literatur unbestreitbar um globale Industrien der Kulturproduktion und Distribution handelt und er den Sachverhalt daher schlicht treffend umschreibt, weswegen man im englischen bzw. auf internationaler Ebene auch vollkommen selbstverständlich von „Cultural Industries“ spricht. Im Sinne der Cultural Studies folgt der Autor aber explizit nicht der implizierten normativen Ab- und Ausgrenzung in Kunst und Kommerz, in anspruchsvolle Hochkultur und minderwertige Unterhaltungs- oder Populärkultur, die im Rahmen eines normativen Kulturbegriffs oft einhergeht mit Formen der Technik- Modernitäts- und Kulturkritik, wie sie auch im Digitalisierungsdiskurs zu beobachten ist: [3]
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