Sofort umklammerten die Frauen jeweils einen Arm von ihm.
„Auf drei?“
„L-Lieber auf Zehn!“, Saris Knie waren beim Blick nach unten weich wie Butter geworden.
„Eins...“
Die Dämonen schlugen gezielt, kräftig gegen die Tür, sodass man Holz barsten hörte und der Tisch ganze zehn Zentimeter weggeschoben wurde.
„Zwei...“
Ein letzter, koordinierter Schlag und das Hindernis gab nach, zerbrach ins Innere des kleinen Raumes. Doch so geschickt die azamuthischen Wachen auch gehandelt hatten, nun gewann ihr Instinkt die Oberhand: alle wollten gleichzeitig hinein preschen, sodass sie im Türrahmen stecken blieben, durcheinander fielen und sich gegenseitig auf die Füße stiegen.
„Drei!“
Lyze schob die Frauen mit einem sachten Schubser voran, ehe er selbst keinen Boden mehr unter den Füßen spürte.
Durch den freien Fall schienen die Regentropfen nicht mehr von oben, sondern von unten zu kommen; und sie fielen so schnell, das Sari anfing zu kreischen.
„Lyze, die Flügel!“, erinnerte Tracy und krallte sich, nun auch mehr in Panik, in seinen Arm. „Schneeell!“
Gerade als er verzweifelt rufen wollte, dass es nicht ging, erstreckten sich hellgelbe Schwingen auf seinem Rücken. Sie erschienen genau im Aufwind, sodass alle drei nach einem Sturzflug wieder nach oben flogen, ehe sie das gemeinsame Gewicht nach einem kurzen Gleitflug nach unten drückte, bis hin zum Wald. Kaum streiften sie im holprigen Flug die ersten niedrigen Baumkronen, verschwanden Lyzes Flügel aus heiterem Himmel. Sie fielen durch die Äste und Zweige, sodass sie reflexartig von einander los ließen.
Tracys Schweif war bis zur Schwanzspitze aufgeplustert, als sie mit den Krallen ihrer Finger die Rinde eines Baumes nach unten rutschte, bis sie zum Stehen kam. Saris Sturz wurde von einem dichten Strauch – zum Glück ohne Dornen – gebremst. Vom Baum, aus dem Lyze stürzte, fielen und drehten sich einzelne Blätter bis auf den Boden.
„Das...“, Sari konnte ihr Herz bis in den Hals schlagen hören, „Das war das Gefährlichste... was ich-“ – da krabbelten große Käfer auf ihrem Kleid – „Bei Desteral, iiieh!“
Trotz der waghalsigen Situation konnte Tracy nicht anders, als über Saris Problem zu kichern. Ihre Ohren stellten sich im nächsten Moment auf, um Lyze zu orten.
Hoffentlich war er nicht verletzt.
Sie hörte nicht weit entfernt die einzelnen Blätter eines Strauches knistern, sodass sie vom Baum sprang und zu diesem lief: „Lyze? Geht es dir gut...?“
Er hing verheddert in den Ästen und konnte sich alleine nur schwer befreien. „J-ja. Ich denke schon...“
„Das war eine unglaubliche Aktion...“, sie zerrte Lyze aus dem Strauch, als gleichzeitig ihre Miene zu einem besorgten Blick wechselte: „Wir hätten uns verletzen oder sogar sterben können. Bitte, mach so etwas nicht mehr.“
„Aber-“
„Wobei es die einzige Lösung war, zu fliehen.“, nun lächelte sie, „Na gut, es sei dir verziehen. Aber mache das nicht noch einmal!“
Mit einem leisen Seufzer kam der Halbengel auf seine Beine zurück, ehe er nickte und sich abklopfte. „Versprochen.“
Oben, an der Wendeltreppe der dunklen Festung, hallte eine Frauenstimme bis in den letzten Raum. Lydia quetschte sich durch die im Weg stehenden Dämonen: „Aus dem Weg! Verzieht euch, ihr fetter Abschaum!“
Endlich war sie im Zimmer angekommen, in dem die drei Flüchtenden zuletzt gesehen waren. Ein paar Dämonen standen ratlos vor dem großen Loch der Steinwand und starrten nach unten. Beim Anblick der etwas kopflosen Kollegen schnellte in ihr die Wut hoch: „Worauf wartet ihr!? Verfolgt sie, ihr Hohlbirnen!“
„Aber-“, warf einer der Wärter ein, die Schultern fest nach oben gezogen: „Wir können nicht fliegen.“
„Na schön – Ihr nicht!“, Lydia stieß im Eifer den doppelt so großen Dämonen zur Seite.
Sie stellte sich an die äußerste Kante des klaffendes Loches und schnaufte zu ihren Kollegen zurück: „Gibt Meister Tarrence Bescheid. Ich, Agentin Lydia, nehme die Verfolgung auf. Sie sind garantiert in den Wald geflohen – ich bringe sie zurück... lebendig oder tot.“, mit diesen Worten ließ sie sich fallen. Schon nach kurzer Distanz erstreckten sich ihre ledrigen Schwingen und sie flog dahin, dem Wald entgegen.
Einer ihrer Kollegen blickte ihr nach. Er begann den Kopf zu schütteln, mit dem Wissen, dass Lydia sich in ihrem Zustand eigentlich ausruhen sollte: „Hoffentlich übernimmt sie sich nicht.“
„Wir sind noch nicht in Sicherheit.“, der Halbengel schien von der anstrengenden Flucht erschöpft, versuchte aber stark zu bleiben. Angesichts der Verfolger hatte er keine andere Wahl. „Lasst uns weitergehen. Der Wald wird uns ein wenig Zeit verschaffen.“
Mit Vertrauen kamen ihm die Frauen nach. Lyze ging im Schnellschritt, weswegen sie gezwungen waren, sich ebenso zu beeilen. Die Arme eng am Körper angelegt, blickte Sari den Weg zurück: „Glaubt ihr, Tarrence wird uns verfolgen?“
„Hm, vielleicht.“, die Animo ließ sich zur verunsicherten Frau zurückfallen und leistete ihr Gesellschaft. „Er könnte uns auch nur seine Schergen nachschicken. So viel Zeit wird er als Befehlshaber nicht haben, dass er persönlich nach uns sucht.“
„Er nicht.“, mit sorgenvollem Blick, gerichtet gen wolkenverhangenen Himmel, war Lyze stehen geblieben. Seine Reisegefährten taten es ihm gleich und sahen ebenso in den Regen: Umrisse einer geflügelten Frau wurden sichtbar – und es handelte sich hierbei keinesfalls um einen Engel. „Aber diese Lydia...“
Noch ehe er seinen Satz beenden konnte, zog die Dämonin ihre Flügel zu sich und raste im Sturzflug auf die Gesuchten zu. Dass sie in einem Wald standen war ihr in diesem Moment egal. Durch ihre angeborene Fähigkeit, im Dunklen gut sehen können, blitzten ihre Ziele wie Mäuse in einem Kornfeld hervor.
Die Menschenfrau sprang einen Schritt näher zu Tracy, da Lydia – gleich einer Bombe – vor den Füßen der Gesuchten einschlug. Hochgekommen auf ihre Beine, warf sie Lyze einen tief verhassten Blick zu. War es, weil er ein Engel war, oder sie in ihm immer noch den Schuldigen für den Tod ihrer Kameraden sah: wenn Blicke töten könnten, wäre er längst gefallen.
„L-Lydia-“, lächelnd versuchte Sari auf sie einzugehen. Bei ihrer zweiten Begegnung konnte sie aufgrund ihrer Lähmung nicht mit der Dämonin sprechen: „Schön, dich zu sehen! Oder so... ähm. Wir hatten einen sehr miesen Start. Was ich dir damals wegen Piov und Utah sagen wollte-“
„Sie sind tot. Tot! Dank euch!“
„N-nein, eben nicht! Wir tragen nicht die geringste Schuld an-“
Tracy stieß ihre Freundin unverständlich in die Hüfte. „Sari-“, flüsterte sie, „Was machst du da? Sei still....!“
„Lydia, Lyze kann nichts dafür! Der Kommandeur-“, beide Frauen sprangen erneut einen Schritt zurück, als Lydia ihren Ring in eine Peitsche verwandelte und ihnen drohend entgegenhielt.
„Sari, lass das!“, mischte nun Lyze ein, „Du machst alles nur schlimmer!“
„Nein! Das muss gesagt werden!“, nur so konnte sich Sari besser fühlen.
Ihrer ungerechtfertigten Schuld ein Ende setzen.
„Piov und Utah haben es nicht verdient, zu sterben. Nicht auf diese Art. Ich möchte ihnen zumindest ihre Würde wiedergeben und mich aufrichtig entschuldigen.“, um ihren Worten Ausdruck zu verleihen, verbeugte sich Sari vor der Dämonin. Sie hatte all den Zorn nie gewollt.
In Lydias Augen blitzten Trauer mit fast ein wenig Dankbarkeit hervor.
Allerdings nur fast.
Denn Sari war und blieb eine von Tarrence dringend gesuchte Person – und die Dämonin setzte alles darauf, sie wieder einzufangen.
„Ich weiß, was du jetzt denkst.“, so Sari, „Du musst uns trotzdem zurückbringen. Doch wir gehen nicht zurück – da draußen wartet jemand auf uns.“
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