Carolin erzählt David nicht, was es ist; wem oder was sie beide folgen. Sie selbst weiß es auch nicht genau, denn sie kann es selbst nicht sehen. Noch nicht, vielleicht bald, aber sicher ist es nicht. Sie weiß nur, dass sie ihm folgen muss. Es bleibt zwar vor ihren Augen verborgen, aber sie hört etwas, immer wieder und es fühlt sich nicht fremd an, im Gegenteil. Ihr ist, als hätte sie es schon einmal gehört, etwas, das sie tief im Herzen berührt obwohl sie nicht mit Sicherheit sagen kann, dass sie es tatsächlich kennt. Es scheint eine Melodie zu sein, eine ruhige und sanfte Melodie, ein wenig melancholisch, traurig vielleicht. Eine Melodie, die gerade eigentlich gar nicht zu ihrer Stimmung passt, denn sie fühlt sich frei und unbeschwert, sie scheint glücklich zu sein, ihre Neugier ist geweckt und sie freut sich auf das, was sie noch erleben wird. Wird sie das, etwas erleben? Lebt sie gerade? Und ob sie das tut, denn sie ist nicht tot. Sie lebt, und sie wird etwas erleben. Gemeinsam mit David. So, wie es immer war. Sie haben schon so einiges zusammen erlebt, aber sie will jetzt nicht an die Vergangenheit denken, sondern will ihr Leben genießen, solange sie es noch kann.
Noch immer hört sie diese Melodie, aber ihr will einfach nicht einfallen, woher sie sie kennt oder womit sie dieses Lied, dieses Zusammenspiel einiger weniger Instrumente in Verbindung bringen könnte. Aber sie kann die Melodie ganz deutlich hören. Es hört sich an, als würde eine alte Schallplatte abgespielt werden, es rauscht ein wenig, ganz leise, aber deutlich zu hören. Da sie sowieso keine Antworten auf ihre Fragen bekommt, macht sie sich keine weiteren Gedanken darum, sie lauscht der Musik still weiter, fliegt, zieht David mit sich, dessen Hand noch immer fest in ihrer liegt, als wären sie miteinander verschweißt, als gäbe es nichts, das sie trennen könnte. Sie schauen quer durch den Himmel, schauen sich die Wolken und Vögel an, die Schmetterlinge und Insekten, die ein Stück tiefer fliegen als sie beide. Sie schauen hinab auf die Erde unter ihnen, auf die Häuser und Straßen, auf die Autos, die durch die Straßen fahren, auf die Menschen, die einen gemütlichen Sonntags-Spaziergang machen, teils alleine, teils mit ihrem Partner. Andere Frauen und Männer wiederum schieben Kinderwägen oder Rollstühle vor sich her. Ein recht zufriedener Ausdruck liegt in ihren Gesichtern, sie genießen, gesättigt vom Sonntagsbraten, das warme und sonnige Wetter mit ihrer Familie und freuen sich auf den Kaffee und den Kuchen zum Nachmittag. Sie schauen in den Himmel und sehen die Sonne und die dünnen Wolken, die alle paar Minuten zumindest für kurze Zeit ein kleines bisschen Schatten spenden, bevor die Sonne ihre Strahlen wieder aus ihrem Versteck holt. Aber sie sehen nicht, dass sie beobachtet werden. Sie sehen nicht, wie zwei Menschen sich gefährlich nah an der Sonne bewegen ohne zu verbrennen, wie sie fliegen, ohne in einem Flugzeug zu sitzen oder Flügel zu haben, wie sie schweben, ohne Engel zu sein. Zumindest ist es das, was David und Carolin glauben. Sie sind keine Engel, sie sind einfach sie selbst, David und Carolin. Eheleute, glücklich verheiratet, gesund und munter, sonst wären sie doch jetzt nicht hier.
Plötzlich wird Carolin langsamer, ihr Gesichtsausdruck zeigt leichte Verwunderung, sie bleibt stehen , schwebt auf der Stelle. "Was ist?" Auch David hält zwangsläufig inne. Sarah lauscht noch einen kleinen Augenblick, ehe sie antwortet. "Es ist weg." Davids Verwunderung wächst augenblicklich. "Was ist weg?" Carolin scheint in Rätseln zu sprechen. "Ich kann es nicht mehr hören. Diese Melodie. Sie ist weg." Carolin hatte nichts von einer Melodie erwähnt. "Welche Melodie denn?" David konnte es noch nie leiden, wenn seine Fragen unbeantwortet blieben, aber Carolin sagt nichts weiter. Stattdessen dreht sie ruckartig den Kopf in die Richtung, aus der sie kamen und setzt zum Weiterfliegen an. "Warum gehen wir denn jetzt wieder zurück? Ich dachte, du kennst den Weg?" Carolin weiß es selbst nicht so genau. Sie weiß nur, dass sie wieder zurück muss, zurück an ihren Startpunkt, an dem ihre Reise begann. Zurück zu dem Gebäude, das so seltsam riecht und nicht sehr wohnlich aussieht, obwohl so viele Betten darin stehen, zurück zu dem Bett, an dem sie saß, um David zu wecken und ihn zu überreden, mit ihr zu kommen. Warum nur muss sie zurück? Sie hatten sich doch gerade erst auf den Weg gemacht, sie will doch noch so viel sehen. Aber wieder ist da etwas, das sie anzieht, als würde etwas oder jemand sie rufen, obwohl sie nichts hören kann. Sie kann sich nicht dagegen wehren, sie muss zurück. Es wird nicht lange dauern, bald wird sie eine Antwort auf ihre ungeplante Rückkehr bekommen – und gleichzeitig den wohl größten Schock ihres bisherigen Lebens.
Sie kommen immer näher. Näher an die Erde, näher an die Menschen, die hier wohnen, näher an dieses kalte Gebäude, das von außen so modern aussieht, dass man sich kaum vorstellen kann, dass das Innere dieses riesigen Betonblocks vor allem vor noch modernerer Technik nur so strotzt. Vor dem Fenster des Zimmers, in dem Carolins lebloser und stark verformter Körper liegt, bleiben sie stehen. Carolin drückt ihre Nase gegen die Scheibe und hält ihre Hände leicht rund um ihre Augen, damit die Sonne sie nicht zu sehr blendet. Sie kann nicht glauben, was sie da sieht. Sie schnappt nach Luft, obwohl ihr gleichzeitig der Atem stockt. Sie schaut direkt in ein Krankenzimmer. Darin befinden sich ein kleiner Tisch, einige Apparate, die sämtliche Zahlen und Linien darstellen, Lichter blinken, ein leises Piepsen dringt durch die geschlossene Fensterscheibe. Nun weiß sie, was sie hierher gelockt hat, was sie dazu veranlasst hat, ihre Reise zu unterbrechen und noch einmal zurück zu kehren. Sie sieht ein Bett, es steht mit dem Kopf an der Wand inmitten der Maschinen. Sie sieht ihre Schwiegereltern, die an diesem Bett stehen, ihre Schwiegermutter hat ihre Hand auf die Schulter eines Mannes in ihrem Alter gelegt, der auf einem Stuhl sitzt und mit starrem Blick auf das Bett starrt. Das Bett, in dem seine Tochter liegt. Carolin. Erst jetzt kann sie es erkennen. Sich selbst erkennen, wie sie daliegt, regungslos, stumm, mit geschlossenen Augen, umhüllt von Verbänden, die größtenteils unter einer Bettdecke versteckt sind, sämtliche Kabel und Schläuche an und in ihrem Körper, der sonst immer top in Form gewesen war, wovon hier jedoch nichts mehr zu sehen ist. Was soll das? Warum liegt sie so da? Warum ist sie nicht draußen, macht Sport, hat Spaß und genießt ihr Leben? Warum stehen und sitzen sie alle an ihrem Bett und schauen so traurig und hoffnungslos aus? Und wie kann es sein, dass sie sich selbst in diesem Bett liegen sieht, obwohl sie doch eigentlich direkt vorm Fenster steht, die frische Luft und das tolle Wetter genießt? Oh mein Gott, ist sie etwa…? Aber nein, das kann ja nicht sein, sonst würde ihr Körper dort nicht mehr liegen und ihr Brustkorb würde sich nicht heben und senken, wie es gerade der Fall ist, viel zu gleichmäßig für ein selbständiges Atmen. Bevor sie diesen schlimmen Gedanken weiterdenken kann, kommen neue Fragen in ihr auf. Wo ist David? Sollte er als ihr Ehemann nicht auch an ihrem Bett stehen und bei ihr sein? Moment, gerade eben ist er noch mit ihr durch die Wolken geflogen, seine Hand fest mit ihrer eigenen verbunden. Sie dreht sich um, aber David steht nicht mehr hinter ihr. Wo ist er nur? Ist er noch immer bei ihr? Wo ist sein Körper? Da fällt ihr etwas ein. Sie erinnert sich zurück an den Beginn ihres Ausflugs. Richtig, sie saß ja an seinem Bett, kurz bevor sie losgeflogen sind in einem Zimmer, das fast genauso aussah, wie dieses hier, in dem ihr eigener Körper liegt, in dem ihre Familie nach kaum vorhandener Hoffnung schöpft. Ob er noch immer dort liegt? Sie schaut noch ein letztes Mal zurück in den Raum, in dem ihre Familie um ihr Leben bangt, wie es scheint. Sie spürt nichts von alledem, gerade eben ging es ihr noch so gut und nun muss sie mit ansehen, wie ihr eigenes Leben langsam zu Ende geht. Oder tut es das etwa gar nicht? Ist es nur ein längerer Schlaf, eine Art Auszeit, um sich zu erholen, um wieder vollständig zu genesen? Also vielleicht doch eine Art Urlaub, welchen sie nutzt, um eine wundersame Reise zu unternehmen? Widerwillig wendet sie den Blick erneut ab, schaut nach rechts und sieht David ebenfalls vor einem Fenster stehen. Sie läuft auf ihn zu, er schaut durch das Fenster hindurch, hinein in sein eigenes Zimmer, schaut auf sein eigenes Bett, auf seinen eigenen Körper. Seine Miene ist ernst und doch beinahe ausdruckslos. Als wäre er traurig, ohne es zeigen zu wollen. Als wäre er fassungslos, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Als würde er überlegen, ob er selbst noch Hoffnung hat und wenn ja, wie viel davon. Als würde er sich gerade erst wieder erinnern, was geschehen war, sofern er es überhaupt wusste. David weiß selbst nicht so recht, was er nun denken soll, ob er in diesem Augenblick überhaupt zum Denken fähig ist. Er sieht sich da liegen, regungslos, an Maschinen angeschlossen. Wenn man sich die Hälfte der sich im Zimmer befindlichen Gegenstände wegdenkt, könnte man meinen, er schläft. Ganz einfach, ohne Grund, weil er müde ist und weil Menschen eben auch mal schlafen, um Energie zu tanken. Vielleicht ist es ja auch nur das, oder zumindest etwas ähnliches? Vielleicht schläft er einfach nur, er erholt sich, er tankt Kraft, er kuriert sich aus, damit sein Körper heilen kann, damit seine Wunden sich schließen und die Einzelteile seiner Knochen wieder zu ganzen Gliedmaßen zusammenwachsen können. Das wird es sein, er ruht sich aus. Und genauso fühlt es sich auch an. Er ist ruhig, ganz entspannt. Er sieht seinen Körper und sieht, dass er schlimm aussieht, aber er hat trotzdem das Gefühl, dass alles in Ordnung ist und dass alles wieder gut wird. Er hat sich diese Pause verdient.
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