Doch jetzt sitzt sie hier in einem Gebäude, das sie gar nicht mag, ihr Körper liegt bewegungslos im Zimmer nebenan, ähnlich wie Davids Körper in diesem Raum liegt, übersät mit Verletzungen, vollgepumpt mit Medikamenten von denen niemand so genau weiß, was sie tatsächlich mit ihrem Körper anstellen. Sie sitzt noch immer an Davids Bett, während dieser weiterhin damit kämpft, die Augen zu öffnen und sich langsam aufzusetzen, damit er aufstehen und Carolins Vorschlag folgen kann. Raus an die Luft, das ist eine gute Idee. Etwas sehen, die Augen nach schönen Dingen offen halten und einfach ihre Nähe spüren. Sie hat recht, sie müssen sich beeilen und jeden Augenblick nutzen, solange sie noch die Möglichkeit haben. Carolin erhebt sich langsam von Davids Bett, noch immer seine Hand haltend, und zieht ihn sachte mit sich. Sie laufen nicht, sie schweben. Nicht durch die Tür des Zimmers, denn das kann ja jeder. Nein, sie schweben weiter, sie fliegen. Hinaus zum Fenster, das einen Spalt breit offen steht, hinaus in die Natur, um ihren Gipsverbänden zu entfliehen und die Freiheit zu spüren. Sie drehen sich nicht um, sie lassen ihre Körper in den kahlen, sterilen Zimmern hinter sich. Sie fliegen höher und höher, über sämtliche Wiesen und Dächer hinweg, durch Bäume hindurch, beinahe auf gleicher Höhe wie die Vögel und Schmetterlinge, die sie auf ihrem Weg ein kleines Stück zu begleiten scheinen. David hat immer noch ein wenig Mühe, wach zu bleiben und hält Carolins Hand ganz fest, damit sie ihn weiter mit sich ziehen kann, damit David nicht den Halt verliert und unvermittelt wieder zu Boden stürzt. Er lässt sie nicht los, er will sie begleiten, selbst wenn es ihn noch so große Mühe kostet. Auf keinen Fall lässt er sie alleine weiterziehen, denn er weiß im Moment noch nicht genau, wohin die Reise geht und ob sie jemals wieder zurückkehren werden. David hofft, dass ihre Wege sich nicht trennen werden und im Moment sieht alles danach aus, als würden sie beide gemeinsam eine lange Reise unternehmen, ohne zeitliche Einschränkung, ohne festes Ziel und doch überall hin.
Es gibt keinen bestimmten Grund für diese Reise, und wenn doch, so kennen sie ihn nicht oder haben ihn weit von sich geschoben. Lediglich Carolin verspürt den Drang, sie hat das Gefühl, dass sie es tun muss . Es ist eine seltsame Reise, ohne bestimmte Pläne, ohne Gepäck und ohne feste Dauer, ohne ein Gefährt, das sie von einem Ort zum nächsten bringt. Sie haben nur sich, und das ist mehr, als sie sich wünschen können und zugleich alles, was sie brauchen, um diese Reise unternehmen zu können.
Was wird sie auf dieser Reise wohl erwarten? Was werden sie sehen, wo werden sie sich aufhalten? Wem werden sie begegnen? Werden sie Gleichgesinnte treffen, die eine ähnliche Reise unternehmen, wie sie beide? Werden sie etwas Aufregendes erleben oder einfach die Ruhe genießen? Hat diese Exkursion einen tieferen Sinn oder ist es ein reiner Zeitvertreib? Das alles sind Fragen, die sie sich unter normalen Umständen stellen würden, aber diesmal interessiert es sie nicht. Es ist eine spezielle Reise, von der nur David und Carolin wissen. Diese Reise soll ihr Geheimnis bleiben, bis an ihr Lebensende – und noch weit darüber hinaus.
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Fassungslosigkeit steht ihnen ins Gesicht geschrieben, Tränen füllen ihre Augen, ein leises Schluchzen erfüllt den Raum und stört das Piepsen der Maschinen. Das Beben ihrer Schultern stellt neben dem Schütteln ihrer Köpfe die einzige Bewegung in diesem Raum dar. Davids Eltern stehen an seinem Bett, können nicht glauben, wen oder was sie sehen, können nicht verstehen, dass dieser leblose und demolierte Körper ihrem Sohn gehört, der zwar hier in diesem Raum liegt, aber doch nicht hier bei ihnen ist. Er kann sich nicht mit ihnen unterhalten, er kann sie nicht ansehen und sie womöglich auch nicht hören oder fühlen, wie sie sanft und ehrfürchtig ihre Hand behutsam auf seine freien Fingerspitzen legen während der Rest des Arms bis hoch zur Schulter die schwere Last des Gipsverbands zu tragen hat. Sie wissen nicht, was sie denken sollen, woran sie glauben dürfen oder wie viel Hoffnung sich in ihnen breit machen darf. Sie bleiben eine Weile bei ihm, berühren ihn immer wieder, so gut es eben geht, fragen sich ständig, warum das hat passieren müssen. An die Zukunft wollen sie nicht denken, auch nicht an die kommenden Wochen oder Tage, noch nicht einmal an die kommenden Stunden und Minuten, denn dazu ist ihre Angst noch viel zu groß, der Schock noch viel zu tief, das Geschehene noch nicht ganz begriffen. Wenig später gehen sie in das Zimmer nebenan, wo Carolins Vater bereits ebenfalls am Bett seiner Tochter sitzt, die als solche kaum noch zu erkennen ist. Weinen kann er nicht, dazu ist es noch zu früh. Er kann es nicht verstehen, es nicht begreifen und er weiß im Moment noch nicht, ob sein letzter Funken Hoffnung, der letzte Strohhalm, an den er sich klammert, das Recht hat, sich in seinem Innern breit zu machen. Er weiß nicht, ob er hoffen darf oder ob er damit nur seine Zeit verschwendet während er versucht, an ein Wunder zu glauben. Reicht es denn nicht, dass er bereits seine Frau verloren hat? Muss ihn seine Tochter vielleicht ebenfalls bald verlassen? Schweigend sitzt er da, bemerkt kaum, dass weitere Personen den Raum betreten und ihre Hände behutsam und voller Mitgefühl auf seine Schultern legen. Sie möchten gerne etwas sagen, aber sie bringen kein Wort heraus, also schweigen sie gemeinsam und zeigen einander durch einfache, kleine Gesten, dass sie füreinander da sind. So sitzen sie stundenlang da, schweigend, hoffend, bangend. Wischen sich immerzu frische Tränen aus dem Gesicht, nur, um Platz zu machen für neue. Sie wünschten, sie könnten ihren Kindern die Verletzungen und die Schmerzen nehmen und ihnen das frohe Leben geben, das sie am Abend zuvor noch gehabt hatten. Dabei wissen sie nicht, wie gut es ihren Kindern, die schon lange selbst Erwachsene sind, eigentlich gerade geht. Dass sie glücklich sind, dass sie beisammen sind, dass sie eine lange und beinahe unglaubliche Reise unternehmen und so viel mehr sehen, als man es jemals für möglich halten könnte…
David und Carolin fliegen immer weiter. Sie staunen über die Dinge, die sie von hier oben sehen können. Sie sind ganz begeistert vom Wind, der sich hier oben irgendwie anders anfühlt als unten auf der Erde, wo man festen Boden unter den Füßen hat, von den Wolken, die sie umgeben, durch die sie hindurch fliegen und die von hier oben aus schon gar nicht mehr ganz so weiß aussehen, sondern eher milchig grau, fast wie Nebel an einem kühlen Herbstmorgen wie man ihn beobachten kann, wenn man schon früh aus dem Fenster schaut, kurz, bevor man sich auf den Weg zur Arbeit macht. "Wo gehen wir denn hin?" David versucht, gegen den Wind anzukämpfen und hofft, dass seine Worte laut und deutlich genug sind, um an Carolins Ohr zu dringen, die ihm zwei Armlängen voraus ist, als kenne sie den Weg ganz genau, als hätte sie ein festes Ziel vor Augen. "Ich weiß es nicht genau. Ich weiß nur, dass wir in diese Richtung müssen." Sie zeigt mit dem Finger in den blauen Himmel, aber außer einigen Wolken ist nichts weiter zu erkennen, zumindest nicht auf der Höhe, auf welcher sie sich gerade befinden. Auch auf dem Boden gibt es nichts, das Davids Blick anziehen würde, nichts, das seine Neugier stillen könnte. "Und woher weißt du, dass wir dort hin müssen?" David lässt nicht locker, er will – wie immer – alles genauestens wissen. Er kann es nicht leiden, wenn er die Kontrolle über etwas verliert oder etwas Unvorhergesehenes passiert, wie etwa der Vorfall von letzter Nacht, den er momentan jedoch vergessen zu haben scheint. Zumindest denkt er nicht darüber nach und es kommt ihm auch nicht seltsam vor, dass er plötzlich fliegen kann. Er lässt sich einfach von Carolin führen. "Irgendetwas führt mich, aber ich kann dir nicht genau sagen, was es ist. Vertrau mir einfach." Aha, also führt Carolin selbst ihn auch nicht, sondern sie wird geführt, oder gerufen, so scheint es. Aber sie lässt nichts weiter darüber verlauten und David gibt es auf, weiter danach zu fragen. Er lässt sich einfach mitziehen und ist gespannt auf das, was ihn erwartet.
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