Judith fragte sich, was hier gespielt wurde und blickte ihren Chef forschend von der Seite an.
Dieser wandte sich ihr zu und sagte ernst: „Das Schreiben ist authentisch. Es stammt nicht von mir.“
Judith nickte und schwieg.
„Ich weiß nicht“, fuhr Hans Waldheim fort, „ob mein Sohn tatsächlich unschuldig ist. Natürlich wäre es mir lieber, obwohl es bedeuten würde, dass man ihn getötet – geopfert – hat.“
„Wenn man diesen Gedanken weiter verfolgt, müsste er in einer Beziehung zu den Mördern gestanden haben. Ansonsten wären sie nicht auf ihn gekommen.“
„Oder sie wollten mich treffen“, sagte der Verleger.
„In dem Schreiben wird ein Herrenclub erwähnt. Könnte es sein, dass Ihr Sohn Mitglied dieses Clubs war?“
„Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht. Natürlich gibt es diesen Club. Warum man ihn in diesem Schreiben als Retter Ben Weselys bezeichnet, kann ich allerdings nicht sagen.“
„Und es ist von Kinderpornos die Rede.“
„Aber nicht in Zusammenhang mit dem Club“, überlegte Waldheim. „Es wäre auch schwer vorstellbar, dass eine größere Anzahl von Männern in wichtiger Position sexuell an Kindern interessiert wäre.“
„In Belgien“, wandte Judith ein, „scheint das zuzutreffen, im Fall Dutroux.“
„Was man Hajo vorwirft, ist ein Abklatsch dessen, was sich in Belgien abgespielt hat. In einen Keller eingesperrte Jugendliche …“
„Darüber weiß ich zu wenig“, bekannte Judith. „Aber ich werde mich damit befassen. Jedenfalls gibt es dieses Schreiben an Sie. Also werde ich mich mit dem Herrenclub befassen.“
„Das ist in meinem Sinn. Es wäre schön, würde mein Sohn von diesem schrecklichen Verdacht befreit. Inzwischen berichten wir in Familie Österreich objektiv über die Ermittlungen. Das heißt, wir geben das wieder, was uns die Polizei zukommen lässt.“
Judith nickte.
„Wie geht es Ihnen dabei?“
„Ich leide wie ein Hund“, sagte Waldheim und streichelte Erwins breiten Kopf. „Die Herren treffen sich jeden Freitag“, sagte er noch.
Judith fuhr gleich nach dem Treffen per U-Bahn zur Herrengasse, das Auto ließ sie auf dem Firmenparkplatz stehen.
Sie entschied sich für ein zweites Frühstück im Café Bades, einem aufwändig restaurierten Kaffeehaus im Jugendstil, in dem um diese Zeit vornehmlich Damen saßen, von einigen Studenten abgesehen, die in Taschenbüchern oder auf E-Book-Readern lasen oder auf Notebooks, Pads und Smartphones tippten.
Der L-förmige Raum mit dem vergoldetem Stuck, der mit dem honigfarbenen Holz der Einrichtung harmonierte und den Kristallleuchtern, die von der hohen Decke hingen, wirkte imposant, war aber leider verraucht. Ein Umstand, den Judith nicht besonders schätzte, den sie aber aus beruflichen Gründen tolerieren musste.
Es war angenehm kühl und ruhig im Lokal, nur die Kaffeemaschine zischte, sobald ihr heißer Dampf entwich. Hier herrschte das ganze Jahr dasselbe Klima, egal wie heiß oder kalt es draußen war.
Judith dachte zurück an den Lauf im Gewitter am Vorabend und stellte für sich fest, dass sie keine Kaffeehauspflanze war, sie fühlte sich hier, trotz der Weite des Raumes, eingesperrt.
Ein Kellner im schwarzen Smoking mit weißem Hemd, schwarzer Weste und schwarzer Masche fragte sie, womit er die Dame verwöhnen dürfe.
Judith bestellte ein Wiener Frühstück, das aus Gebäck, Konfitüre, Butter, Ei und Großem Braunem bestand. Während sie darauf wartete, studierte sie die Speisenkarte, auf deren Rückseite die Geschichte des Hauses beschrieben wurde.
Da stand zu lesen, dass das Kaffeehaus, benannt nach seinen damaligen Besitzern Adalbert und Ernestine Bades, 1918 eröffnet worden und 2002 renoviert worden war, wobei viele Veränderungen zurückgenommen und die ursprünglichen Absichten des Architekten Viktor Siedek wieder stärker berücksichtigt worden waren. Zu den Stammgästen des Lokals hatten viele Größen der österreichischen Literatur wie Peter Altenberg, Friedrich Torberg, Hugo von Hoffmannsthal, Robert Musil und Hans Werfel gezählt.
Und auch heute noch , stand zu lesen, begrüßt das Café Bades bedeutende Gäste, deren Wirken und Werk das Leben in unserer einzigartigen Stadt bereichern.
Judith überlegte, in welcher Weise wohl ihre eigene Tätigkeit die Stadt Wien bereichere, schüttelte dann lächelnd den Kopf und wartete weiter auf das Frühstück, das ziemlich lang auf sich warten ließ.
Als der Kellner schließlich den Kaffee auf einem silbernen Tablett mit einem Glas Wasser, auf dem ein Dessertlöffel balancierte, auf den Marmortisch stellte, fragte ihn Judith nach dem Herrenclub, von dem sie gehört habe.
„Dazu empfehle ich das Buch Die Goldene Ära des Wiener Kaffeehauses “, sagte der Ober mit einer leichten Verbeugung. „Dort finden Sie alles Wissenswerte über unser Haus und die wichtigsten Konkurrenten.“
„Viel lieber höre ich das aus dem Mund eines Experten aus Fleisch und Blut“, versuchte es Judith mit Charme.
Wieder verbeugte sich der Ober und erklärte, dass in ersten Jahren der Ära des Café Bades im Geschoss über dem Kaffeehaus eine Reformschule untergebracht war, die von einer Eugenie Schwarzbach, einer Nichte von Adalbert Bades, geführt worden war. Als diese die Schule nach Mödling verlegte, zog in diese Räume der so genannte Herrenclub ein, dessen erlesene Mitglieder sich bis heute regelmäßig treffen.
„Eine Art Geheimbund?“, erkundigte sich Judith.
„Weniger geheim als exklusiv“, erklärte der Ober, bedauerte aber, keine Details verraten zu dürfen. Dann fügte er noch in verschwörerischem Ton hinzu: „Man sollte sich aber nicht zu sehr dafür interessieren. Die Herren sind sehr mächtig und haben es nicht gerne, wenn man ihnen zu nahe kommt.“
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