Judith gefiel der Vorschlag, und die beiden wanderten die Florastraße entlang zum Kurpark. In der kühlen, dunklen Luft schwebten Glühwürmchen, und Judith blickte zum Himmel, auf der Suche nach Sternschnuppen. Doch der beinahe volle Mond schien zu hell.
„Schade“, sagte sie. „Ich hätte mir gerne etwas gewünscht.“
„Was denn?“, fragte Manuel, der sich bei ihr eingehängt hatte.
„Ich würde gerne im Park des Thermalbads verschwinden, so wie in den Ferien in der Kindheit, für Tage, ja Wochen, lesen, baden, Eis essen. Und an nichts denken.“
„Das können wir jederzeit machen. Wir müssen nur Urlaub nehmen.“
„Das machen wir. Wenn dieser Fall abgeschlossen ist.“
„Fall? Du sprichst von einem Fall?“
„Ich will wissen“, erklärte Judith, „was es mit der Entführung Ben Weselys auf sich hat und warum mein Chef sich an den Ort fahren lässt, an dem der Entführer gestorben ist, dort niederkniet …“
„Das ist wohl einige Fragen wert“, fand Manuel.
„Und bei dir? Was war heute bei dir los?“
„Gert und ich haben Wesely zu Verhandlungen mit einem deutschen Filmproduzenten begleitet. Er wird ein Buch schreiben, und dieses soll verfilmt werden.“
„Hat er schon seine Eltern getroffen?“
„Sie waren auch dort. Aber …“
„Ja?“
„Sie reden nicht miteinander.“
„Wie meinst du das?“
„Schau, eine Fledermaus! Jetzt wird es unheimlich. Vampire fliegen durch die Lüfte, auf der Suche nach dem Blut unschuldiger Mädchen.“
„Also habe ich nichts zu befürchten.“
„Fühl dich nicht allzu sicher!“
Bei diesen Worten setzte er seine Lippen an Judiths Hals und begann zu saugen.
„Au, das brennt“, rief Judith und schob seinen Kopf weg. „Den Fleck werde ich mit Make-up überdecken müssen. Du bist unmöglich!“
„Willst du dich nicht revanchieren?“
„Das hättest du wohl gerne.“
„Bitte!“
„Nein.“
„Dann erzähl ich dir nichts mehr.“
„Dann lässt du es bleiben.“
Die beiden gingen eine Zeitlang schweigend nebeneinander her, bis Manuel es nicht mehr aushielt.
„Die beiden Eltern reden nicht miteinander, und Ben Wesely ignoriert sie.“
„Merkwürdig.“
„Die Eltern sind geschieden und absolut unmöglich. Der Vater trinkt, die Mutter …“
„Ja, was?“
„Sie frisst jeden Mann, dem sie begegnet bei lebendigem Leib.“
„Auch dich?“
„Mit den Augen.“
„Kann ich verstehen. Es wäre interessant, mit den beiden zu reden.“
„Geht nicht. Sie stehen bei Cramar unter Vertrag.“
„Ein dichtes Netzwerk.“
„Sozusagen. Au, das habe ich jetzt ganz übersehen.“
„Wenn ich einen Fleck habe, sollst du nicht ungeschoren davonkommen“, sagte Judith und löste ihre Lippen von Manuels Hals. „Und jetzt drehen wir um. Ich möchte etwas trinken …“
„Und essen.“
„Zu dem Prachtwetter passen Weißwein und Grammelschmalzbrote, leicht gesalzen und gepfeffert.“
„Aber das haben wir leider nicht“, bedauerte Manuel.
„Du täuschst dich. Im Kühlschrank lagern Wein, Mineralwasser und Schmalz. Und Weißbrot haben wir auch.“
„Das wir kurz ins Backrohr legen, damit es besonders knusprig wird.“
Während sich Judith um die Brote kümmerte, fragte sie Manuel, ob er daran gedacht habe, ihre Uhr zum Service zu bringen.
„So etwas erledigt der Meister selbst“, erklärte er.
„Das heißt …“
„Das heißt, dass dein Maurice Lacroix Les Classiques Chronograph …“
„Mit Mondphase …“
„Nach seiner Entmagnetisierung wieder tadellos funktioniert.“
„Entmagnetisierung?“, fragte Judith erstaunt.
„Die Batterie war in Ordnung, auch sonst waren keine Mängel zu erkennen, also habe ich vermutet, dass die Uhr nicht funktionierte, weil sie einem starken Magnetfeld ausgesetzt war.“
„Aber …“
„Ich tippe auf unseren Herd mit den Induktionskochfeldern.“
„Beunruhigend, diese geheimnisvolle Kraft im Hintergrund, die ein Uhrwerk stillstehen lässt.“
„Solche Magnetfelder können auch Herzschrittmacher beeinflussen.“
„Die wir beide nicht haben. Und wie hast du die Uhr entmagnetisiert?“
„Bei Hildner an der Hochstraße. Er hat ein Gerät dafür.“
„Und deine Rolex funktioniert noch?“
„Leider nur eine Imitation.“
„Aus Italien?“
„Aus dem Internet.“
„Und warum funktioniert deine Uhr noch?“, ließ Judith nicht locker. „Immerhin kochst du auch.“
„Ich nehme sie immer vorher ab.“
„Das werde ich auch machen. Wenn ich nicht darauf vergesse.“
Am nächsten Vormittag setzte sich Judith an ihr Notebook und blickte durch das Fenster der Dachterrasse auf den Park des Thermalbades. Sie nahm sich vor, sobald sie die Aufgabe erledigt hatte, die sie sich vorgenommen hatte, schwimmen zu gehen. Der Tag war zu schön, um in der Stube zu hocken.
Sie hielt ihre bisherigen Erkenntnisse schriftlich fest und suchte dann im Internet nach Artikeln über den Entführungsfall.
Sie studierte gerade einen Beitrag in Österreich aktuell , als sie das Signal ihres Handys bei der Arbeit unterbrach.
Der Anruf kam von Gretel Mardein, jener Bekannten ihres Chefs, die sie in Bad Gastein kennen und schätzen gelernt hatte.
Die 82-Jährige hielt sich nicht lange mit Höflichkeiten auf. Sie bat Judith um ein Gespräch, Hans Waldheim betreffend.
„Ich mach mir Sorgen um ihn. Wir müssen ihm helfen“, sagte sie. „Sind Sie einverstanden, mich im Gutshof Thallern zu treffen? Das liegt für Sie und mich auf halbem Weg.“
Judith blickte auf ihre Armbanduhr, die nun wieder funktionierte, sah, dass es halb elf war und freute sich auf die Spezialität des Restaurants, auf Backhendlteile. Das Wetter war schön, also bestand die Möglichkeit, im Gastgarten zu sitzen. Ein zusätzliches Plus, trotz des ernsten Hintergrundes, den Frau Mardein angedeutet hatte.
„Wir treffen einander um zwölf?“, vergewisserte sich Judith.
„Beim Glockenschlag der Johannes-Kapelle“, bestätigte Gretel Mardein.
Frau Mardein saß schon bei einem Glas G’spritzten und erhob sich, als Judith den beinahe vollen Gastgarten betrat. Jetzt erst dachte sie daran, dass sie einen Tisch hätte reservieren lassen sollen. Aber das hatte die umsichtige ehemalige Journalistin für sie erledigt.
Gretel Mardein war wie immer untadelig gekleidet, an diesem Donnerstag in einem rosaroten Kleid mit Gürtel, das ihre noch immer gute Figur unterstrich, ohne zu viel Haut zu zeigen. Das weiße Haar, streng dauergewellt, glich dem Helm eines Ritters ohne Furcht und Tadel.
Die beiden Frauen umarmten einander, während eine Kellnerin auf sie zueilte, um zu fragen, was sie speisen wollten.
„Backhuhn, natürlich“, sagten sie im Chor. „Und für mich auch einen G’spritzten“, fügte Judith hinzu.
Als Judith sich erhob, um sich beim Salatbuffet zu bedienen, bat Gretel Mardein sie, ihr Kartoffelsalat mitzubringen.
„So, jetzt können wir reden“, sagte die beinahe mütterliche Freundin des Herausgebers von Familie Österreich . Immerhin war sie 13 Jahre älter als er. „Hans leidet wie ein Hund“, begann sie das Gespräch und schob etwas Salat in den Mund. „Und das muss ein Ende haben. Die Sache schadet seiner Gesundheit. Haben Sie ihn in letzter Zeit gesehen?“
„Gestern“, erklärte Judith. „Er hat mich gebeten, die Umstände des Todes von Hans-Josef Hebenstreit zu klären. Sie wissen schon, des Entführers des jungen Mannes.“
„Aber Judith, Sie tun ja, als ob ich auf dem Mond lebte! Die Medien berichten über nichts anderes mehr. Und genau darum geht es. Hans-Josef Hebenstreit war der Sohn Waldheims, aus der geschiedenen Ehe mit Nadja Hebenstreit.“
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