„Und Hans-Josefs Vater?“, erkundigte sich Judith.
„Ich weiß nur, dass die Mutter geschieden war. Ein Vater war eigentlich nie da. Hajo lebte sehr zurückgezogen, von einigen Freunden abgesehen, mit denen er hin und wieder feierte. Vermutlich Journalistenkollegen.“
„Vor denen man jetzt das Haus schützt.“
„Darüber sind wir eigentlich froh, mein Mann und ich. Sonst entwickelt sich unser See noch zu einer negativen Attraktion.“
„Wie die Stelle, an der er sich vor den Zug geworfen hat.“
„Ich mag gar nicht daran denken. Schrecklich. Wir haben einen Strauß Blumen hingelegt. Rosen aus dem Garten.“
„Das werde ich auch tun. Wo ist dieser schreckliche Ort?“
„Wenige Meter nach dem Bahnhof.“
„Himberg?“
„Ja. Auf dem Bahndamm. Sie können die Stelle nicht verfehlen. Es brennen einige Kerzen, und es liegen Blumen dort. Die Lok soll seinen Kopf abgetrennt haben.“
„Schrecklich“, sagte Judith und entschuldigte sich. „Mir ist jetzt kalt geworden, ich schwimme zurück zum Haus.“
Judith ließ ihren Körper in der Sonne trocknen und dachte nach.
Auf diese Weise kam sie nur langsam voran. Sie hatte immerhin von einem Atombunker, vom Tod der Mutter Hebenstreits und dem Ort, an dem er ums Leben gekommen war, erfahren, und sie würde das für ihren Chef dokumentieren. Vielleicht konnte Manuel im Gespräch mit seinen Kollegen, die das Haus bewachten, mehr über den mysteriösen Keller herausfinden, in dem Ben Wesely acht Jahre lang gefangen gehalten war.
Noch war ihr Interesse an diesem Fall nicht geweckt. Sie bedauerte zwar grundsätzlich, dass der Journalist ums Leben gekommen war. Andererseits hatte er mit der Entführung Ben Weselys ein schweres Verbrechen begangen.
Sie wollte wissen, wie spät es war, blickte wieder einmal auf ihr leeres linkes Handgelenk und las schließlich vom Display ihres Handys die genaue Uhrzeit ab. 15:07 Uhr.
Sie stieg in ihren Wagen und wollte in den Navigator Himberg und Bahnhofstraße eingeben, als sie erkannte, dass es dort nur eine Bahnstraße gab.
Auch recht , dachte sie, folgte den Anweisungen und gelangte in wenigen Minuten zum kleinen Bahnhof. Dort bog sie nach Süden, in die Anton-Diettrich-Gasse, und sah am mit verdorrtem Gras bewachsenen Bahndamm Blumen und Kerzen. Eine Frau betete an der provisorischen Gedenkstätte.
Judith stoppte den Wagen in einiger Entfernung und legte die letzten Meter zu Fuß zurück.
In diesem Moment ging ein metallisches Sirren von den Bahngleisen aus, und kurz darauf donnerte ein von einer Elektrolok gezogener Personenzug vorbei. Judith spürte einen kalten Luftzug und erschauderte. Sie dachte an einen Menschen, der all das hörte und dennoch auf den Gleisen liegenblieb.
Sie stellte sich neben die in Andacht versunkene Frau und bedauerte, nicht wenigstens Wiesenblumen mitgebracht zu haben. Die Frau zu ihrer Rechten bekreuzigte sich, dann ging sie in die Knie, um Blumensträuße und Kerzen zurechtzurücken. Ihrer Handtasche entnahm sie ein Feuerzeug und entzündete damit mehrere Kerzen, die der Luftzug von der Bahn gelöscht hatte.
„Ein böser Ort“, sagte Judith mehr zu sich selbst.
„Ein schlimmes Ende für einen Menschen“, sagte die Frau, die irgendwie nach Chemikalien roch. Oder war das der Bahndamm oder eine zu heiß gewordene Kerze?
„Sie kannten Hans-Josef Hebenstreit?“, fragte Judith, bemüht, interessiert, aber nicht neugierig zu klingen.
„Er hat sich bei uns stylen lassen. Herr Hebenstreit war sehr auf sein Aussehen bedacht.“
Jetzt wurde Judith klar, wonach die Frau roch. Nach Chemikalien aus einem Friseurladen, die für Dauerwellen und das Haarfärben verwendet wurden.
„Sie sind Friseurin?“
„Salon Uli“, bestätigte sie stolz.
„Die Chefin?“
„Ulrike Horvath.“
„Ich bin Judith Steyn.“
Die beiden Frauen standen eine Weile schweigend Seite an Seite, dann sagte die Friseurin: „Der Pichler hat ihn gefunden, als er vom Mittagessen zur Arbeit fuhr.“
„Das heißt“, schloss Judith, dass Hebenstreit in den Mittagsstunden ums Leben gekommen ist und der Lokführer nichts mitbekommen hat.“
„Sie haben recht. Er hätte sonst angehalten, und man hätte ihn früher gefunden.“
„Wo wohnt dieser Herr Pichler? Ich möchte mit ihm reden“, versuchte Judith, den direkten Weg zu gehen.
„Sie kannten Hebenstreit?“
„Eine komplizierte, sehr persönliche Angelegenheit.“
„Schon gut. Sie müssen nicht darüber reden. Ulf Pichler arbeitet im Lagerhaus.“
Im Großmarkt des Lagerhauses in der Rauchenwartherstraße erkundigte sich Judith bei der Frau an der Kassa nach Herrn Pichler. Die Frau im grünen Hemd griff nach dem Telefonhörer und bat ihn zum Ausgang.
Dem kräftigen Mann mit dem dichten Schnurrbart, der nach längerer Zeit erschien, stellte sich Judith als Journalistin vor. Sie bot ihm ein Honorar für das Interview an und fragte, welche finanziellen Vorstellungen er habe.
„Keine. Ich darf nicht mit Presseleuten reden“, wehrte er ab und versuchte dabei freundlich zu bleiben, denn Judith schien ihm zu gefallen, obwohl oder weil sie ihn beinahe um einen Kopf überragte. Judith Steyn war über einen Meter achtzig groß.
„Dann hat wohl ein Gespräch keinen Sinn“, zeigte sich Judith enttäuscht.
„Das würde ich nicht sagen“, meinte der etwa Vierzigjährige und blickte in Judiths blaue Augen.
„Es muss ein Schock für Sie gewesen sein.“
„Das kann man wohl sagen. Ich habe das Ganze – ihn – die Reste von ihm – zuerst für ein Kleiderbündel gehalten, das jemand entsorgt hat, dann aber bin ich stehengeblieben und habe mir … Ich muss zugeben, dass ich mich übergeben habe. Der Kopf lag abgetrennt auf der anderen Seite der Geleise.“
„Und es war erkennbar, um wen es sich handelt?“
Der Mann nickte stumm.
„Merkwürdig“, überlegte Judith. „Bei dem Tempo, mit dem die Bahn unterwegs ist. Oder war es ein Lokalzug, der in Himberg gehalten hat und dann erst langsam wieder angefahren ist?“
„Ich weiß nicht, wie lange er dort gelegen hat“, meinte der Mann. „Aber jetzt darf ich wirklich nichts mehr sagen. Herr Cramar von Österreich aktuell hat mich unter Vertrag.“
„Und wie sieht das finanziell aus?“
„Mehr als zwei Monatsgehälter.“
„Nicht schlecht.“
„Ich hab ihn ja nur vom Sehen gekannt.“
„Herrn Hebenstreit?“
Wieder nickte der Mann. „Er hat in anderen Kreisen verkehrt.“
„Sie meinen …“
„Bessere Leute und irgendwie anders.“
Judith wollte nicht weiter nachfragen, bedankte sich und verabschiedete sich von dem Mann, dann wandte sie sich wieder an die Kassiererin und fragte nach Friedhofskerzen.
Vor die Wahl gestellt, ob sie sie sich für eine echte Kerze oder für eine mit Batterie gespeiste, flackernde Imitation entscheiden sollte, griff sie des Fahrtwindes wegen, den die Züge erzeugten, zur Nachbildung.
Als sie wieder zum Bahndamm fuhr, sah sie in der Ferne einen dunklen Wagen, dem ein älterer Herr entstiegen war, der sie an Hans Waldheim erinnerte.
Der Mann kniete eine Zeitlang vor der Unglücksstelle, dann erhob er sich, wischte über die Knie seiner dunklen Hose und ging zurück zum Auto, das sich kurz darauf in Bewegung setzte.
Obwohl er in die andere Richtung fuhr, konnte Judith noch das Nummernschild lesen. Eine Wiener Nummer. Waldheims Nummer. Ihr Chef war hierher gefahren, um des toten Entführers zu gedenken.
Manuel kam einige Minuten nach 23 Uhr in die gemeinsame Wohnung.
„Ein Glück, dass man den Jungen bald ins Bett schickt“, sagte er und fragte Judith, ob sie noch Lust auf einen Spaziergang durch das nächtliche Bad Vöslau habe. „Es wird erst jetzt angenehm kühl“, sagte er.
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