Bruckfleisch hatte Judiths Oma zu besonderen Anlässen gekocht. Die aus Innereien bestehende Speise war besonders schmackhaft, aber auch preisgünstig.
Judith erinnerte sich an die Küche ihrer Großmutter in Bad Vöslau, in der ein großer, mit Holz beheizter Herd stand, auf und in dem ständig Köstlichkeiten buken, simmerten oder brieten.
Großmutters Bruckfleisch bestand aus geschmortem Kronfleisch, Rinderherz, Leber, Nieren, Bries und Milz, in einer würzigen Sauce. Und all das durfte man nicht direkt vom Herd essen, es musste mindestens vom Vortag sein, nur die Semmelknödel waren frisch und flaumig.
Judith wartete gespannt auf das Essen und hoffte, dass dieses einigermaßen mit Omas Küche mithalten konnte.
Und tatsächlich. Das Bruckfleisch aus dem Hause Gusenbauer – so hieß das Gasthaus – schmeckte zwar anders, aber durchaus delikat. So delikat, dass Judith ein zweites Bier bestellte.
Etwas schläfrig geworden, überlegte sie, wie sie wohl am besten Hans-Josef Hebenstreits Spuren folgen konnte und griff nach einem Exemplar der Tageszeitung Österreich aktuell , die in einem Zeitungshalter aus gebogenem Weidenrohr neben Waldheims Familie Österreich und der Presse , dem Standard und einer Gratiszeitung lag.
Sie las einen Artikel über die Entführung Ben Weselys vor acht Jahren, der mit einem Kinderfoto des nunmehr 18-Jährigen illustriert war, als die Kellnerin fragte, ob sie eine Nachspeise bringen dürfe. „Wir haben Sachertorte, Apfelstrudel mit Schlag, Cremeschnitten …“
Judith bat um die Eiskarte. Es war ziemlich heiß für Mitte Juni. Die Schafskälte schien sich in diesem Jahr zu verspäten oder gar auszufallen.
„Schrecklich“, sagte die Servierkraft mit dem jugendlich zu einem mädchenhaften Pferdeschwanz gebundenen Haar, obwohl sie an die sechzig sein mochte. „Schrecklich das alles. Dabei war Hajo ein ausgesprochen netter junger Mann.“
So jung auch nicht mehr, mit seinen 37 Jahren , dachte Judith, hielt jedoch ihre Zunge im Zaum, weil sie mehr erfahren wollte.
„Er hat bei Ihnen gegessen?“, erkundigte sie sich bei Frau Gerti, wie die Kellnerin von den übrigen Gästen gerufen wurde.
„Am Samstag und am Sonntag regelmäßig, während der Woche war er in Wien. Manches Mal kam er noch auf ein Bier, kurz bevor wir zusperrten. Keiner von uns hätte gedacht, dass er … Na, Sie wissen schon …“
„Dass er ein Kind entführt hat?“
„Dass er andersrum war. Warum sonst hätte er den Jungen all die Jahre eingesperrt?“
„Und niemand hat etwas bemerkt?“
„Sicher, er ist nie mit einer Frau gekommen, aber sonst …“
„Ich meine den Jungen, Ben Wesely. Den hat offenbar niemand gesehen.“
„Der muss die ganze Zeit im Keller gewesen sein, sonst wäre er den Nachbarn begegnet.“
„Am Dürrsee.“
„Das ist ein Schotterteich. Privat, mit lauter Häusern rundherum, zum Teil Wochenendhäusern von Wienern.“
Als ein Gast zahlen wollte, bestellte Judith rasch einen Fruchteisbecher mit Hohlhippen und wunderte sich erneut. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand einen Knaben acht Jahre in einem Keller gefangen halten sollte. Wieder fiel ihr Waldheims Hund ein. Hatte der Junge im Keller dieselbe Funktion wie ein Haustier gehabt? Hatte er dazu gedient, dem Journalisten die Einsamkeit vergessen zu lassen? Nein. Eine einigermaßen vernünftige Beziehung konnte sich nur entwickeln, wenn man dem Partner Freiraum gewährte.
Ihre Gedanken schweiften ab zu ihrer Beziehung mit Manuel. Er hatte ursprünglich mit ihr zusammenarbeiten wollen, wie in Bad Gastein. Bis er feststellte, dass das für ihn nicht ging. Er wollte Judith als Partnerin, nicht als Chefin.
Das schadet meiner Potenz , hatte er gesagt, obwohl Judith in dieser Hinsicht nicht zu klagen hatte.
Dann hatte er seine Ausbildung zum Bodyguard bei seinem ehemaligen Ausbildner auf der Polizeischule begonnen und arbeitete jetzt für dessen Agentur Guardian Angels .
Ein dunkelgrüner Wagen von Guardian Angels stand vor dem ebenerdigen Fertighaus am Dürrsee, den man kaum sah, so eng lagen die bebauten Grundstücke am Wasser nebeneinander, mit keiner Möglichkeit, den Teich zu erreichen, ohne eine Besitzstörungsklage zu riskieren. Hebenstreits Haus wurde offenbar von Koziks Leuten bewacht.
Judith dachte nach, wie sie mehr über den verstorbenen Journalisten herausfinden könnte und kam auf den Gedanken, es vom Wasser her zu versuchen, bei einem Haus, dessen Besitzer nicht anwesend waren.
Dazu benötigte sie einen Schwimmanzug. Sie fuhr zurück nach Himberg, wo sie in der Hauptstraße ein Sportgeschäft gesehen hatte.
Dort probierte sie mehrere einteilige Schwimmanzüge, entschied sich dann für einen hellblauen Bikini und Sonnenöl mit Schutzfaktor 20.
Beim Zahlen hatte sie kurz schlechtes Gewissen, denn sie freute sich auf das Schwimmen und ein Sonnenbad, doch befreite sie sich schnell von diesem Zweifel. Warum sollte sie nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden?
Mit ihrem Jeep Wrangler Moab umkreiste sie den Teich und hielt an einem Häuschen, dessen Rollläden heruntergelassen waren. Auf der Wiese hinter dem Gebäude schlüpfte sie in den Bikini und steckte prüfend die Zehen des rechten Beines in das Wasser.
Die Temperatur war angenehm für Mitte Juni, außerdem befanden sich in einiger Entfernung mehrere andere Schwimmer im Wasser.
Aber bevor sie ins Wasser ging, wollte sie die Sonne genießen und legte sich auf ihr Gewand, das sie auf dem mehrere Zentimeter hohen Gras ausgebreitet hatte. Die Besitzer schienen lange nicht am Teich gewesen zu sein.
Die Wärme der Sonne tat wohl, vom Wasser her wehte sanfter Wind. Judiths Gedanken verloren sich in Erinnerungen an Urlaub, Ferien, Kindheit …
Als sie erwachte, spannte die Haut in ihrem Gesicht. Das Mittagessen war doch mehr als ausreichend gewesen. Nun aber war ihr nach Bewegung zumute.
Zügig ging sie ins Wasser, das ihr bald bis zum Nabel reichte, durchpflügte den Teich im Kraulstil, wendete viermal, erst dann näherte sie sich dem Grundstück, auf dem Hans-Josef Hebenstreits Haus stand.
Es wurde auch auf der Wasserseite bewacht. Ein junger Mann in der dunkelgrünen Uniform, die Judith von Manuel kannte, saß auf einem Campingsessel im Schatten und las ein Buch.
Weil der Zugang zum Haus auf diesem Weg nicht möglich war, entschloss sich Judith zum Gespräch mit anderen Schwimmern und näherte sich einer Luftmatratze, auf der eine korpulente ältere Frau lag, die selbst einer aufblasbaren Matte glich.
„Wieder ein herrlicher Tag“, sagte Judith zu ihr, und die Frau lobte das Wasser, die Sonne und das Leben überhaupt.
Judith umkreiste, sanft paddelnd, die Luftmatratze und meinte dann: „Wie schön wäre die Welt, wenn es keine Menschen gäbe. Anwesende natürlich ausgenommen.“
„Sie denken an Hebenstreit. Das ist allerdings tragisch. Er hätte sich doch wegen dieser blöden Sache nicht umbringen müssen.“
„Sie haben den Jungen, den er angeblich gefangen hielt, auch nie gesehen?“
„Nein. Sie doch auch nicht?“
„Zumindest waren die beiden nie gemeinsam im Wasser“, sagte Judith.
„Eben. Ich kann es nicht glauben. Und der geheimnisvolle Keller war nicht wirklich ein Geheimnis. Hans-Josef hat immer wieder von seinem Atomschutzbunker geredet.“
„Natürlich. Der war ihm wichtig“, tastete sich Judith im Gespräch voran.
„Die Sache musste ihn viel gekostet haben. Aber er hatte geerbt.“
„Das Haus hatte er von …“
„Von seiner Mutter. Die werden Sie nicht mehr gekannt haben. Sie starb vor zehn, zwölf Jahren.“
„Er wollte sich gegen einen Atomangriff absichern.“
„Ja, Männer haben manchmal so fixe Ideen. Dabei hätte das wenig Sinn, wenn nur er in seinem Keller übrig bliebe. Alles wäre verstrahlt. Er hätte nichts zu trinken.“
Читать дальше